Früchte der Diskriminierung

In Dresden beginnt heute der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder der schwangeren Ägypterin Marwa El-Sherbini

  • Leonhard F. Seidl
  • Lesedauer: 3 Min.
Vor dem Landgericht in Dresden beginnt heute die Hauptverhandlung um die Tötung der Ägypterin Marwa El-Sherbini. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten Alex W. Mord aus Ausländerfeindlichkeit vor.

Neben dem Hauptanklagepunkt des Mordes an Marwa El-Sherbini wirft die Staatsanwaltschaft Alex W. außerdem versuchten Mord und schwere Körperverletzung an deren Ehemann Elwi Okaz vor. Alex W. hatte während einer Gerichtsverhandlung im selben Gebäude sechzehnmal auf die Apothekerin Dr. Marwa El-Sherbini eingestochen und verletzte auch den ihr zu Hilfe eilenden Ehemann. El-Sherbini verstarb noch im Gerichtssaal vor den Augen ihres dreijährigen Sohnes. Marwa El-Sherbini hatte den 28-jährigen aus Russland stammenden Deutschen angezeigt, weil er sie auf einem Spielplatz als »Islamistin« und »Terroristin« beschimpft hatte.

Im Gegensatz zum 1. Juli dieses Jahres, als El-Sherbini erstochen wurde, gleicht das Justizgebäude einer Festung. Das Landeskriminalamt Sachsen geht aufgrund erzürnter Reaktionen aus Teilen der muslimischen Welt von einer »hohen Gefährdung« aus. Rund 200 Polizisten sichern den Prozess ab, andere Verfahren werden verlegt, das Gebäude wird abgesperrt. Eine rund 50 000 Euro teure Glaswand wurde im Gerichtssaal eingebaut, um die Zuschauer von den Prozessbeteiligten zu trennen. Gegen Alex W. erschien Anfang August ein Mordaufruf im Internet, bestätigte die Sprecherin des LKA Sachsen, Silvaine Reiche.

Journalisten aus der ganzen Welt werden den Prozess, für den bis zum 11. November elf Sitzungstage angesetzt sind, beobachten. Mutmaßungen über eine psychische Erkrankung des Angeklagten verwarf Oberstaatsanwalt Christian Avenarius. Als Nebenklage tritt die Familie der Toten auf. Sie erhebt auch Vorwürfe gegen den damals Vorsitzenden Richter und den Bundespolizisten, der auf den Ehemann schoss, als er seiner Frau helfen wollte.

Der Fall hatte vor allem im Ausland für schwere Proteste und Aufsehen gesorgt – im Gegensatz zur Bundesrepublik. So gab es hier unmittelbar nach der Tat nur eine lapidare Erklärung von Angela Merkels Sprecher, aber sie selbst und andere hochrangige Politiker äußerten sich nicht. Auch die meisten Medien reagierten verspätet, etlichen Zeitungen war der Fall nur eine kurze Meldung wert.

Die Islamwissenschaftlerin Dr. Sabine Schiffer stellt die Frage, »ob es sich bei den Abläufen auch um Unterlassungen aus Sicht der Justiz aufgrund der Unterschätzung der Gefahr des antiislamischen Rassismus handelt.« Hatte doch der Angeklagte Alex W. laut Medien in seiner ersten Vernehmung geäußert: »Wenn ich Waffen oder Sprengstoff gehabt hätte, hätte ich die mit hierher gebracht.«

Für Dr. Schiffer ist der Fall ein Zeichen dafür, dass die »Saat der antiislamischen Hassprediger wie auch deren Pendants« aufgegangen ist. In den Medien wurden Gewaltthemen erfolgreich mit Symbolen des Islam verknüpft.

Als Alex W. auf Marwa El-Sherbini einstach, dachte der Vorsitzende Richter, laut Anklageschrift, er würde auf sie einprügeln; den Alarmknopf drückte er später. Nur der Ehemann und der Pflichtverteidiger von Alex W. versuchten, den Angeklagten zu überwältigen. Die Staatsanwältin, eine Urkundsbeamtin und zwei Schöffen griffen nicht ein. Ein Bundespolizist, der aus einem benachbarten Saal gerannt kam, schoss auf den Ehemann, nicht auf den Täter. Für Dr. Schiffer war der »Polizistenfehlschuss weder vorsätzlich, noch bösartig – aber eventuell rassistisch beeinflusst, da arabisch-stämmige Mitbürger in den Medien undifferenziert immer wieder als potenzielle Gewalttäter, Terroristen oder ›Ehrenmörder‹ dargestellt werden, was das Unterbewusstsein der Medienkonsumenten und deren tatsächliches Handeln in Stresssituationen beeinflussen« kann.

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