Der Zwang zur Antithese

Der Revolutionshistoriker als Zeitgenosse: Walter Markov

  • Mario Keßler
  • Lesedauer: 4 Min.

Diese Autobiografie ist noch rechtzeitig zum 100. Geburtstag von Walter Markov (5. Oktober) erschienen. Sie ruft die Erinnerung an einen der besten und vielseitigsten Historiker des 20. Jahrhunderts wach. Wie wohl nur sein Pariser Freund Albert Soboul steht Markov für die marxistische Historiographie zur »Großen Revolution der Franzosen«. Doch erschöpft sich seine wissenschaftliche Bedeutung darin nicht, hat er doch auch Werke zur Geschichte des Balkans wie des Osmanischen Reiches vorgelegt. Der Forschung zum antikolonialen Befreiungskampf der afro-asiatischen Völker hat er wichtige Anregungen vermittelt.

Das Buch ist für Markovs erste Lebenshälfte ungemein aufschlussreich. Er beschreibt das Leben in zwei Vielvölkerstaaten, der k.u.k.-Monarchie und dem 1918 neu entstandenen Königreich Jugoslawien, wie auch die Studienjahre in der krisengeschüttelten Weimarer Republik, die Zeit zwischen Promotion, Widerstandsarbeit und Verhaftung im faschistischen Deutschland und die elf langen Jahre im Zuchthaus Siegburg. Die Jahrzehnte danach sind knapper dargestellt, zum Teil Fragment geblieben. Hier wäre ein erläuterndes Vorwort oder eine behutsame Kommentierung in Fußnoten hilfreich gewesen. Dies vermag freilich am Wert des Buches nichts zu ändern.

Eine Quelle ersten Ranges sind, obgleich sich Markov darin als Person zurücknimmt, die beklemmenden Zuchthausjahre. Überaus genau porträtiert er seine Mitgefangenen. Er schildert die widersprüchlichen Gefühle angesichts der Moskauer Prozesse, des deutsch-sowjetischen Paktes, des Vormarsches der Wehrmacht und der kriegsentscheidenden Wende bei Stalingrad. Sorgsam registrierte er die beginnende Unsicherheit unter dem Wachpersonal.

Zusammen mit einigen Mitgefangenen fasste Markov angesichts der heranrückenden US-Truppen den Entschluss, die bereits demoralisierte Wachmannschaft zu entwaffnen. Im Bewusstsein des Risikos, den der Plan dennoch in sich barg, wollte er einen wenn auch noch so geringen Beitrag zur Befreiung leisten. Das Vorhaben gelang. Am 12. April 1945 übergab Markov als Leiter des Aufstandskomitees die Schlüssel zum Zuchthaus der einrückenden US-amerikanischen Einheit.

Als freier Mensch nach elf Jahren Haft stürzte er sich ins politische Geschehen. Er wurde, obgleich dem Studentenalter entwachsen, zum Mitbegründer des Bonner Allgemeinen Studentenausschusses, des AStA. Doch gerade dies verbaute dem Kommunisten Markov die wissenschaftliche Laufbahn im Westen. Er stand vor der Entscheidung, »sich weiterhin als Opposition innerhalb eines wenn schon demokratischen, so doch kapitalistischen Systems einzurichten« oder zum »Aufbau des Sozialismus« beizutragen, »der meinem allmählich reiferen Alter näher zu liegen schien, als der dauernde Zwang zur Antithese«.

Markov beschreibt nicht ohne Augenzwinkern, wie ihm Robert Rompe und Paul Wandel die Weichen zur wissenschaftlichen Laufbahn in Leipzig stellten, auch die fördernde Rolle des Rektors Hans-Georg Gadamer kommt nicht zu kurz. Nach einer im Parforceritt erbrachten Habilitation wurde Markov 1949 zum Professor berufen. Er wandte sich der Geschichte des Balkans zu. Die Leipziger Berufung aber fiel in die Zeit des Bruches Stalins mit Tito, und als ehemals jugoslawischer Staatsbürger geriet Markov ins Fadenkreuz der Eiferer. 1951 wurde er als angeblicher »Parteifeind« aus der SED ausgeschlossen. Zwar konnte ihm sein Freund Gerhard Harig die Professur retten. Doch mit der Forschung zu den Balkanländern war es erst einmal vorbei. Er fand in der französischen Revolution von 1789 und vor allem in Jacques Roux als Exponenten ihres frühsozialistischen Flügels sein Lebensthema als Historiker.

Lange Jahre hielt er an der Hoffnung fest, die DDR wie die Sowjetunion könnten zur Einheit von Demokratie und Sozialismus gelangen. Dazu wollte er als Historiker beitragen. Doch schlug er spätere Angebote zum Wiedereintritt in die SED aus, es sei denn, die Partei entschuldige sich bei ihm. Die Hoffnung auf eine Demokratisierung der SED und der DDR blieb jedoch eine Illusion.

Das Buch zeigt auch Markov in seiner Familie. Er zeichnet liebevolle Porträts seiner Frau Irene und der fünf Kinder. »Wie viele Leben lebt der Mensch?«, fragt er zuletzt. Es bleibt ein offener Schluss. Der Gelehrte, der am 3. Juli 1993 starb, sah noch die DDR und Jugoslawien untergehen. Darüber findet sich nichts im vor 1989 abgeschlossenen Text. Doch hätte er diesen deshalb umschreiben müssen? Er hätte es nicht, denn die Lebensbilanz des Menschen und Forschers Walter Markov ist eine bessere als die aller Welten, in denen er lebte. Er bleibt ein Glücksfall für all jene, die ihn erleben durften, und er war ein großes Glück für die DDR – ein manchmal unverdientes Glück.

Walter Markov: Wie viele Leben lebt der Mensch? Eine Autobiographie aus dem Nachlass. Faber & Faber, Leipzig. 399 S., geb., 19,90 €.

Die Leibniz-Sozietät erinnert am morgigen Freitag mit einem Kolloquium in Berlin u.a. dem Werk von Walter Markov und Ernst Engelberg (10-17 Uhr, Stadthaus Mitte, Parochialstr. 1-3).

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