Mit »nationaler Identität« auf Stimmenfang

Frankreichs Regierung lässt Debatte über Nationalstolz der Franzosen führen

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

Das demonstrative Bekenntnis zur »nationalen Identität« half Nicolas Sarkozy 2007 im Präsidentschaftswahlkampf, einen Großteil der traditionellen Wähler der rechtsextremen Front National abzuwerben. Jetzt, knapp ein halbes Jahr vor Regionalwahlen, soll das Thema noch einmal zum Stimmenfang dienen. Seit Dienstag läuft die offizielle Debatte.

Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hat kurzfristig eine »Volksaussprache« angeordnet, und sein Minister für Einwanderung, Integration und Nationale Identität, der ehemalige Sozialist Eric Besson, ist mit großem Eifer an die Arbeit gegangen. In wenigen Tagen ließ er das Konzept ausarbeiten, eine »Argumentationshilfe« zusammenstellen und drucken sowie eine entsprechende Internetseite ins Netz stellen. Die Präfekturen im ganzen Land wurden von Besson angewiesen, in ihrem Amtsbereich öffentliche Veranstaltungen zum Thema »nationale Identität« zu organisieren und dazu Kommunalpolitiker, Unternehmervertreter und Gewerkschafter, Aktivisten von Bürgervereinen, Lehrer, Schüler und Eltern einzuladen. Fragen wie »Was heißt es heute, Franzose zu sein?«, »Was charakterisiert unsere Nation?«, »Welchen Beitrag leisten Einwanderer zur nationalen Identität?« sollen den Gedankenaustausch in Gang bringen.

Zum Abschluss der auf zweieinhalb Monate angelegten »Volksaussprache« soll in Paris ein wissenschaftliches Kolloquium stattfinden. Die in all diesen Diskussionen geäußerten Meinungen, die Briefe und Mails, mit denen das Besson-Ministerium rechnet, aber auch die Kommentare der Medien sollen bis Februar zusammengetragen und ausgewertet werden. Daraus will der Minister ein realistisches Bild davon gewinnen, wie sich die Franzosen selbst sehen, und konkrete Vorschläge für den Präsidenten ableiten, was man für die Stärkung des nationalen Zugehörigkeitsgefühls tun kann.

»Es geht darum, die Werte der Republik herauszustellen und den Stolz zu betonen, Franzose zu sein«, meint Minister Besson, der jeden Zusammenhang mit den bevorstehenden Wahlen weit von sich weist. Doch den sehen nicht nur Medien und Politiker der linken Opposition, sondern auch die meisten Franzosen. Einer am Wochenende veröffentlichten Umfrage zufolge halten 65 Prozent der Befragten die Kampagne für eine langfristige Wahlkampfaktion, doch sind 60 Prozent mit einer solchen »Volksaussprache« durchaus einverstanden.

Nach ihrer »Werteskala« befragt, betonen 98 Prozent die Bedeutung der französischen Sprache für die nationale Identität, 92 Prozent die Republik, 91 Prozent den Öffentlichen Dienst, 88 Prozent die Nationalflagge »Tricolore«, 85 Prozent die Trennung von Kirche und Staat, 77 Prozent die Nationalhymne und 73 Prozent die Aufnahme und Integration von Ausländern. Die größte Gefahr für den nationalen Zusammenhalt ist nach Überzeugung des aus Italien stammenden Historikers Max Gallo die Abkapselung von Minderheiten ausländischer Herkunft. »Was wir brauchen, ist eine Politik der Integration von Ausländern, die aus ihnen Franzosen machen will und ihnen zugleich signalisiert, dass ihre kulturellen Besonderheiten als Gewinn gewertet werden.«

Dominique Sopo, Präsident der Organisation SOS Racisme, ist überzeugt, dass die Kampagne den latenten Rassismus im Land, die mangelhafte Integration von Einwanderern und die Abschiebung unerwünschter Ausländer kaschieren soll: »Nationale Identität lässt sich nicht von oben diktieren. Sie muss für die Betroffenen ein erkennbarer Gewinn sein.«

Die empörte Reaktion der meisten linken Oppositionspolitiker gegen die Instrumentalisierung des Nationalstolzes vieler Franzosen durch die Rechtsregierung ist jedoch meilenweit entfernt von der früher zu beobachtenden schlichten Gleichsetzung von Nation und Nationalismus. »Die nationale Identität schöpft nicht nur aus der Vergangenheit, sondern ist auch der Zukunft zugewandt«, schätzt beispielsweise die PS-Politikerin Ségolène Royal ein, die daran erinnerte, dass zu den Farben der Tricolore auch das Rot gehört. »Es geht darum, sich immer neu für die Ziele der Französischen Revolution wie Kampf für Freiheit und gegen Privilegien, für eine Gesellschaft der Solidarität und Brüderlichkeit einzusetzen. Eine Politik sozialer Ungerechtigkeiten wie die der Regierung Sarkozy zerstört den Zusammenhalt der Nation.«

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