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  • 20 Jahre nach '89 - 52 Geschichten

Wieder fremder im eigenen Land

Am 9. November 1989 kam Karl Nolle von Hannover nach Dresden – und blieb. 20 Jahre später glaubt der SPD-Rebell und Druckereichef: »Wir sollen nicht dazugehören.«

  • Hendrik Lasch, Dresden
  • Lesedauer: 6 Min.

Wer zu früh kam, den bestraften noch die Grenzer. Familie Nolle fuhr am späten Nachmittag des 9. November 1989 am Grenzübergang Marienborn vor und wurde bei der Einreise in die DDR in gewohnt gründlicher Manier gefilzt. Selbst Nolles blonde Hündin unterzog der Amtstierarzt einer eingehenden Kontrolle. Die Bilder von Trabis, die ungehindert in den Westen rollen, würden sie erst etliche Stunden später nach ihrer Ankunft bei Freunden auf dem Weißen Hirsch in Dresden in der Spätausgabe der »Aktuellen Kamera« sehen. Sie waren, sagt Karl Nolle, »wohl fast die letzten, die kontrolliert wurden«.

Nolle, der damals 44 Jahre alt war und in Hannover eine Druckerei betrieb, im zugehörigen Pablo-Neruda-Haus linke chilenische Emigranten betreute und Tagungen von sozialistischen Osteuropa-Komitees organisierte, fuhr samt Frau und Eltern, die allesamt politisch höchst interessiert waren, aus drängender Neugier in die DDR. Dort wurde seit Wochen demonstriert; der SED-Machtapparat erodierte mit verblüffender Geschwindigkeit. Sonderlichen Illusionen über den Sozialismus in der DDR hatte sich Nolle nie hingegeben. Der Spross einer sozialdemokratischen Familie war feuriger Juso und gegen Notstandsgesetze oder den Springer-Verlag auf die Straße gegangen; sehnsuchtsvoll gen Osten geblickt hatte er aber nie. Große Teile der Familie wohnten in der DDR; ihre Berichte beugten jedweder Verklärung vor. In seiner Firma druckte er Plenzdorfs »Leiden des jungen W.« und Rudolf Bahros »Alternative«, die er dann in die DDR schmuggeln ließ. Im Herbst 1989 wollte er sich ein eigenes Bild machen und beantragte ein Visum. Am 9. November stieg die Familie in Hannover ins Auto. Es sollte ein Aufbruch für immer werden.

Nach Dresden? »Ihr spinnt doch!«

An jenem Tag ahnte Nolle das noch nicht. Am Abend hatte er, noch ganz unter dem Eindruck des »Gänsehauterlebnisses« aus den Nachrichten, vielmehr mit seinen Gastgebern zunächst erhitzt über den Umbruch debattiert, der die DDR nun erwartete. Der Hoffnung seiner Bekannten auf einen besseren Sozialismus hielt der Westlinke die feste Prophezeiung entgegen, es werde kein Jahr bis zur Einheit dauern; mit dem Mauerfall sei das System schließlich »aus den Angeln gehoben«. Wie dramatisch es über Nacht an Autorität eingebüßt hatte, erlebte er am nächsten Morgen vor dem Dresdner Polizeipräsidium. Dort standen in langen Schlangen Menschen, die sich für ihre erste Fahrt in den Westen zwar noch Stempel holen wollten – nötige Formulare aber aus Bauchläden ausgehändigt bekamen. Nolles, die sich wie alle Bundesdeutschen auf DDR-Visite anmelden mussten, schoben sich vorbei und wurden zornig angeblafft: »Hinten anstellen!« Sie wollten nicht hinaus, sondern herein, erklärte Nolle – und erntete den trockenen Kommentar: »Ihr spinnt doch.«

Tatsächlich blieb Familie Nolle in Dresden. Ein Gottesdienst in der Kreuzkirche an jenem Nachmittag habe wohl die Weiche gestellt, sagt er. Eine hoch politische Predigt, dazwischen die ätherischen Stimmen der Kruzianer, die alte Kirchenlieder sangen: »Wir sind in einem entscheidenden Moment bewegt worden.« Nolle, der sich wegen seiner Abstammung ohnehin »nur zu einem Achtel Niedersachse, aber zur Hälfte Sachse« nennt, trieb Wurzeln in der Stadt. Im Januar 1990 stampfte er mit Freunden das Stadtmagazin SAX aus dem Boden, das schnell zum Kristallisationspunkt für die Kunst- und Kulturszene wurde. Er kümmerte sich um Faxgeräte und Telefonanschlüsse. Weil es keine Möglichkeiten gab, Plakate oder Handzettel zu drucken, wollte er in Dresden zudem noch einen kleinen Kopierladen einrichten. Etliche Monate danach eröffnete Nolle seiner Frau indes, er werde sich einer Offsetdruckerei annehmen, für die er eigentlich nur eine Wertermittlung hatte anstellen sollen. Mein Gott, habe Christl Nolle gestöhnt: »Wir wollten doch dort keine Druckerei!«

Knapp 20 Jahre später sitzt Nolle im dritten Stock des Firmengebäudes eben jenes Betriebs. Er ist etwas fülliger als auf dem körnigen Foto aus dem Herbst 1989, das ihn mit Frau und in Strickjacke vor dem Goldenen Reiter zeigt. Und: Er ist kein Tourist mehr. Der heute 64-Jährige hat, nachdem ihn die Belegschaft darum bat, das Druckhaus Dresden zu einem mittelständischen Unternehmen aufgebaut, an dem die Mitarbeiter beteiligt sind und das wegen seiner Arbeit ebenso anerkannt wird wie wegen der Unterstützung für die Dresdner Künstler und des Lichtdruck-Museums im Keller. Er sei ein »eingesessener Unternehmer«, sagt Nolle. Der regionale Branchenverband hat ihn mehrfach zum Vorsitzenden gewählt. Seit 1999 sitzt er außerdem für die SPD im Landtag; in Dresden hat er sich vor Jahren sogar um das Amt des Rathauschefs beworben. Seine Firma in Hannover hingegen hat Nolle schon 1995 aufgegeben, zum Unverständnis der dortigen Mitarbeiter, die zwar allesamt in anderen Betrieben unterkamen, aber dennoch »den Aufbau Ost als Abbau West« erlebt hätten. Auch seine betagten Eltern holte er in jenem Jahr nach Dresden. Inzwischen sind beide gestorben – und in einem Familiengrab auf dem Friedhof in Dresden-Striesen beerdigt. Heute weiß er, dass er spätestens seit der Einrichtung der Grabstelle endgültig in der Stadt verwurzelt ist: »Seitdem weiß ich, ich gehe hier nicht mehr weg.«

Ist aus dem gefühlten Halbsachsen Nolle damit ein echter Sachse geworden? Vor einem Jahr hätte er die Frage wohl umstandslos bejaht. Heute wirkt er ernüchtert und grübelt, »ob und wozu man hier willkommen ist«. Auslöser für den Pessimismus sind ein Buch, das Nolle im Frühsommer veröffentlichte, und harsche Reaktionen darauf. Der SPD-Mann, der sich als Kontrolleur der Regierung versteht, mit unnachgiebigem Nachbohren bereits zwei CDU-Ministerpräsidenten im Freistaat zu Fall brachte und seither als »Chefaufklärer«, aber auch als »Affärenmacher« oder rücksichtsloser Quertreiber bezeichnet wird, hatte sich jetzt die sächsische CDU insgesamt zur Brust genommen – und deren »heuchlerischen« Umgang mit ihrer DDR-Vergangenheit. Nicht zuletzt am Beispiel von Regierungschef Stanislaw Tillich und dessen geschönten Lebensläufen belegte er, wie Unionsfreunde in den DDR-Apparat verwickelt waren, worüber sie aber heute nicht mehr reden wollen, während der LINKEN das SED-Unrecht bei jeder Gelegenheit vorgehalten werde. Nolle nennt das Doppelmoral – betont aber auch, er kritisiere »nicht die Biografien, sondern den Umgang damit«.

»Der Sachse« steht gegen den »Wessi«

Die CDU freilich keilte mit aller Härte zurück – und führte dabei gnadenlos auch die Herkunft ins Feld. Nur wer in der DDR gelebt habe, könne über die Lebenswege der Ostdeutschen urteilen, schrieb der Generalsekretär der Landes-CDU, der im Jahr 1989 erst 14 Jahre alte Michael Kretschmer, Nolle ins Stammbuch. Auch in den Medien wurde seine Hannoveraner Herkunft nun wieder auffällig oft betont; in den Leserbriefspalten offenbarten sich tief sitzende Ressentiments gegen den »Wessi« Nolle, dessen oft nassforsche Äußerungen freilich auch nicht unbedingt zur Deeskalation beitrugen. Er sei eben ein Achtundsechziger und also »im politischen Streit« groß geworden, sagt der SPD-Mann, der freilich selbst von einem sächsischen Parteifreund als »Hassprediger« bezeichnet wurde und resigniert feststellt, die ostdeutsche Kultur im Umgang mit abweichenden Meinungen unterscheide sich wohl grundlegend von der, mit der er aufgewachsen sei.

Vermutlich war es nicht zuletzt Nolles Attacke, die so in Sachsen ausgerechnet im Jubeljahr 2009 zu einem grotesken Wahlkampf beitrug. Während in Festtagsreden die deutsche Einheit in höchsten Tönen gepriesen wurde, empfahl sich der wegen seiner Vergangenheit unter Druck geratene CDU-Spitzenmann Tillich Wählern als »Der Sachse« – ein Slogan, mit dem an dumpfe Heimatgefühle appelliert wurde, während über Politik nicht geredet wurde. Nolle hingegen sah sich 20 Jahre nach seiner Ankunft in Dresden wieder zum »Wessi« gestempelt. »Man hat uns gezeigt: Wir sollen nicht dazugehören«, sagt Nolle, der am Wahlabend auch bei etlichen SPD-Leuten kaum verhohlene Freude registrierte: Listenplatz 14 reichte zunächst nicht für ein Mandat. Erst dank eines Überhangmandates schaffte er es doch wieder in den Landtag. Weggehen, sagt er, wolle er nicht nur deshalb nicht mehr. Aber, fügt er nachdenklich an, »wir sind wieder fremder geworden.«

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