Wende in den Absturz

  • Harry Nick
  • Lesedauer: 3 Min.
In den vom Zeitgeist bemühten Wende-Erinnerungen hätte auch an das Schicksal der ostdeutschen Industrie erinnert werden müssen.«
In den vom Zeitgeist bemühten Wende-Erinnerungen hätte auch an das Schicksal der ostdeutschen Industrie erinnert werden müssen.«

In den vom Zeitgeist so sehr bemühten Wende-Erinnerungen hätte auch an das Schicksal der ostdeutschen Industrie erinnert werden müssen. Deren Absturz in den Jahren 1990/92 ist schließlich der spektakulärste Vorgang in der Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit: Mitten in Europa und mitten im Frieden wurden über zwei Drittel des Industriepotenzials brachgelegt. Das hatte es selbst im Gefolge der Weltkriege nicht gegeben.

Eine Kette von Täuschungen begleitete den Absturz. Die Regierung versteckte ihre Industriepolitik hinter einer Einrichtung mit dem sympathieträchtigen Namen Treuhandanstalt. Als der ostdeutsche Zorn gegen diese Anstalt anschwoll, wurde sie 1994 formal aufgelöst und versteckt sich seither hinter vier Gesellschaften, deren Namen sich schwer merken lassen. Zur Täuschung gehörte auch die vordem nicht gekannte Zwittergestalt als Behörde wie als Wirtschaftsunternehmen – als solches verweigerte sie unter dem Vorwand, das Geschäftsgeheimnis zu schützen, selbst dem Bundestags-Treuhandausschuss die Einsicht in wichtige Akten.

Diese Anstalt war auch nicht, wie ihre vorgeschobene Funktion hätte erwarten lassen, dem Wirtschafts-, sondern dem Finanzministerium unterstellt, direkt dem Staatssekretär Horst Köhler. Von der Devise »schnell privatisieren, entschlossen sanieren, behutsam stilllegen«, herausgegeben vom später ermordeten ersten Präsidenten der Treuhand, Detlef Rohwedder, blieb nur das schnelle Verscherbeln der DDR-Betriebe. Saniert wurde kaum. »Privatisierung ist die beste Sanierung«, hieß es.

Aber auch als Verkaufsladen war die »Treuhand« eine Täuschung. Dass ein Verkäufer seine Ware so schlecht mache wie diese Treuhand, habe er bislang nicht erlebt, äußerte Graf Matuschka.

Die Treuhand-Verkäufe waren keine wirklichen Verkäufe. »Verkäufer«, »Käufer« und auch Gutachter, Berater waren Angehörige oder Dienstleiter westdeutscher Konzerne. Kein Wunder folglich: »Es hat in Ostdeutschland gar keiner großen Kriminalität bedurft. Jeder bekam, was er wollte«, sagte Hans Richter, bis Ende 1992 Leiter der Rechtsabteilung der Treuhand. Eventuelle Skrupel beschwichtigte das Finanzministerium: »Da ein Ermessensspielraum durch den Gesetzgeber eingeräumt worden ist, wird sich bei Privatisierungen der Verdacht der Untreue im Regelfall kaum begründen lassen.«

Was zahlten die »Käufer«? Gar nichts. Sie erhielten die DDR-Betriebe für eine symbolische D-Mark. Sie strichen »Verlustausgleiche«, Fördergelder ein, weideten die Betriebe aus, schlossen sie dann und hatten einen Konkurrenten weniger. Gewiss hätten manche Betriebe nicht überleben können. Aber viele wurden auch ruiniert, weil sie erfolgreich waren. »Gewonnen und doch verloren«, heißt es in einem Buch über die Berliner Werkzeugmaschinenfabrik Marzahn. Als DDR-Betrieb erfolgreich auf dem Weltmarkt, auch in der Bundesrepublik, wurde sie nach der Wende systematisch zugrunde gerichtet. Kein Wirtschaftswunder: In den alten Bundesländern stieg die Zahl der Millionäre 1990 bis 1992 um 40 Prozent.

Ostdeutsche Bewerber mussten zu 95 Prozent den Substanzwert erstatten. Und 75 Prozent wurden auch noch trickreich konstruierte »DDR-Altschulden« aufgedrückt.

Die am schrillsten von den Mittätern an diesem Zerstörungswerk wiederholte Behauptung, die DDR-Industrie sei ein Schrotthaufen gewesen, ist eine nicht minder schwere Diskriminierung der Ostdeutschen, eine nicht minder hohe Hürde auf dem Wege zur Einheit, wie es ihre niedrigeren Löhne und Renten sind.

In der wöchentlichen ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.

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