Blütezeiten und Pogrome

Drei Synagogen und ein mittelalterlicher Schatz – auf den Spuren jüdischen Lebens in Erfurt

  • Aert van Riel, Erfurt
  • Lesedauer: 6 Min.
Während der Sanierung der Erfurter Altstadt wurden sensationelle Funde gemacht: Ein zugebautes Gebäude entpuppte sich als älteste vollständig erhaltene Synagoge in Mitteleuropa. Seit wenigen Wochen wird hier der, vor wenigen Jahren entdeckte, »Erfurter Schatz« ausgestellt. Jüdische Kultur ist in Erfurt jedoch nicht nur museal und historisch. Die jüdische Gemeinde konnte in den vergangenen Jahren Zuwächse verzeichnen.

Am Sonnabend um 18 Uhr füllt sich die Synagoge in Erfurt. Am Gottesdienst nehmen hauptsächlich ältere Frauen und Männer teil, viele von ihnen stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Gebetsbücher, die sie aufschlagen, sind zweisprachig – Russisch und Hebräisch. Der Gottesdienst am Sabbat beginnt. Auf einem Lesepult stehen zwei siebenarmige Leuchter. Vor dem Pult, mit dem Rücken zur Gemeinde, steht der Vorbeter, im Hebräischen »Chasan« genannt. Er nickt mit dem Kopf und fängt an zu singen – auf Hebräisch.

Seit einigen Jahren regt sich wieder jüdisches Leben in Erfurt. Aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wanderten in den neunziger Jahren zehntausende Juden nach Deutschland aus. Seitdem ist die Thüringer Gemeinde auf 650 Mitglieder angewachsen, etwa 350 von ihnen leben in Erfurt. Doch nur wenige gehen regelmäßig in die Synagoge. »Viele russische Juden sind religiös entwurzelt, denn Kirchgänger waren in der Sowjetunion nicht beliebt«, meint der Gemeindevorsitzende Wolfgang Nossen.

Der Gottesdienst findet in der 1952 eingeweihten Neuen Synagoge statt. Ein schlichtes Gebäude, das sich am Juri-Gagarin-Ring am Rand der historischen Altstadt befindet. Es ist der einzige Neubau eines jüdischen Gotteshauses in der DDR.

Wer vor dem Gebäude steht, dem fallen sofort die vielen Überwachungskameras auf. Sicherheitsvorkehrungen gegen Anschläge. Vor neun Jahren warfen Rechtsextremisten einen Molotow-Cocktail auf das Gotteshaus. Der Brandsatz war aber nicht gezündet und hatte keinen Schaden angerichtet. »Seitdem hat es weder Anschläge noch Drohungen gegen uns gegeben. Außer vor zwei Jahren, als Unbekannte ein Hakenkreuz an die Synagoge geschmiert haben«, berichtet Nossen so sachlich, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen. Der 78-jährige Breslauer hat den Holocaust überlebt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging er nach Israel, kehrte aber 1977 nach Deutschland zurück. Seit Mitte der neunziger Jahre steht der würdevolle, grauhaarige Mann der Thüringer Gemeinde vor.

»Wiederentdeckung« der Alten Synagoge

Mehrere Jahrhunderte lang lebten prosperierende jüdische Gemeinden in Erfurt. Die Stadt ist reich an Zeugnissen jüdischer Kultur. Besonders eindrucksvoll ist die älteste vollständig erhaltene Synagoge Mitteleuropas. Die ältesten Bauteile stammen aus dem 11. Jahrhundert. Die Alte Synagoge im frühgotischen Stil zeugt von der Blütezeit jüdischen Lebens in Erfurt. Bis zu Beginn der Kreuzzüge lebten Juden in mitteldeutschen Städten relativ sicher. »In Erfurt gab es damals kein jüdisches Ghetto. Juden und Christen lebten nachbarschaftlich nebeneinander«, erklärt Ines Beese, Leiterin der Alten Synagoge. Jüdische Kaufleute spielten eine wichtige Rolle in der zentral gelegenen Handelsstadt im Heiligen Römischen Reich.

Diese Blütezeit ging jedoch im 13. Jahrhundert vorbei. Vor allem Diskriminierung, Verfolgung und Mord haben seitdem die Geschichte der Erfurter Juden geprägt. Während eines Pestpogroms im Frühjahr 1349 wurden sie von einem wütenden Mob angegriffen. Man beschuldigte sie, Brunnen zu vergiften und für den Ausbruch der Pest verantwortlich zu sein. Die etwa 900 Juden wurden ermordet oder vertrieben. Viele sollen in Panik sich und ihre Häuser selbst angezündet haben. Kaufleute nutzten die Synagoge in den folgenden Jahrhunderten als Warenlager. Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie zu einem Restaurant mit Tanzsaal umfunktioniert. Wegen der Um- und Anbauten war die Synagoge nicht mehr als ursprüngliches Gotteshaus zu erkennen. »Diese Zweckentfremdung hat die Synagoge vor der Zerstörung durch die Nazis bewahrt, denen die ursprüngliche Bedeutung des Hauses unbekannt war«, erläutert Ines Beese.

Erst seit Anfang der neunziger Jahre wurde damit begonnen, die Substanz des Hauses zu dokumentieren und zu bewerten. Historiker gingen davon aus, dass an dieser Stelle eine Synagoge gestanden haben musste. 1998 erwarb die Stadt Erfurt das historische Gebäude und sanierte es. Damals waren von der Alten Synagoge nur die Spitzen zweier Giebel zu sehen. Nach dem Abriss einiger Anbauten wurde die Westfassade, mit Maßwerkrosette und spitzbogigen Fenstern, sichtbar. Am 27. Oktober wurde hier ein Museum mit Dauerausstellung über jüdisches Leben im Mittelalter eröffnet.

Heimstatt für den »Erfurter Schatz«

Höhepunkt der Exposition ist der sogenannte »Erfurter Schatz«, den ein jüdischer Kaufmann aus Angst vor dem Pestpogrom vergrub. Der 30 Kilogramm schwere Schatz wurde vor wenigen Jahren bei einer archäologischen Ausgrabung unter der Kellertreppe eines Hauses in der Erfurter Altstadt, nicht weit von der Alten Synagoge entfernt, entdeckt. Der Fund zahlreicher profaner Goldschmiedearbeiten aus dem 13. und 14. Jahrhundert war eine Sensation. »Diese Goldschmiedearbeiten sind sehr selten, da sie im Mittelalter, wenn sie aus der Mode kamen, meist eingeschmolzen und neu verarbeitet wurden«, macht die Leiterin der Alten Synagoge die Bedeutung des Gold- und Silberschatzes deutlich. Prunkstück des Funds ist ein kunstvoll gearbeiteter jüdischer Hochzeitsring aus purem Gold. Auf dem Ring befindet sich ein winziges gotisches Haus. Bei Bewegungen des Rings erzeugt eine goldene Kugel, im Innern des Hauses, einen leisen Klang. Nachdem die Kostbarkeiten unter anderem in New York, London und Paris ausgestellt wurden, werden sie nun dauerhaft in der Thüringer Landeshauptstadt zu sehen sein. Erfurt strebt mit seinem mittelalterlich-jüdischen Erbe den Titel des UNESCO-Weltkulturerbes an.

Bereits fünf Jahre nach dem verheerenden Pestpogrom ließen sich erneut Juden in Erfurt nieder. Doch etwa 100 Jahre später verbot ihnen der Stadtrat, dort zu leben und zu arbeiten. Erst als Erfurt zu Beginn des 19. Jahrhunderts an Preußen fiel, wurde die Sperre aufgehoben. Die neu angesiedelte jüdische Gemeinde baute ein Gotteshaus am Flüsschen Gera. Die Kleine Synagoge wurde 1840 im neoklassizistischen Stil fertiggestellt. »Sie war seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ein Wohnhaus. Die letzten Bewohner sind erst 1994 ausgezogen«, berichtet Clemens Kestel, Leiter der Kleinen Synagoge. Kestel ist nicht mosaischen Glaubens, hat aber gute Kontakte zur jüdischen Gemeinde. Heute ist die Kleine Synagoge eine Begegnungsstätte.

Jüdischer Gemeinde droht Vergreisung

Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Kleine Synagoge für die schnell wachsende Gemeinde zu eng. Eine große und prächtige Synagoge wurde gebaut. Doch von ihr ist heute nichts mehr übrig geblieben. Die Nazis brannten sie während der Pogromnacht am 9. November 1938 nieder. In dieser Nacht wurden in Erfurt 197 jüdische Männer aus ihren Häusern geholt und in das nahe gelegene Konzentrationslager Buchenwald deportiert.

Vor 1933 lebten 1219 Juden in Erfurt, zu Beginn der fünfziger Jahren waren es nur noch 15. Die meisten wurden von den Nationalsozialisten ermordet, viele waren geflüchtet. In der DDR konnten sich jüdische Gemeinden, wegen der Auswanderungswellen in den neu gegründeten Staat Israel, nicht regenerieren.

Auch die Zukunft der heutigen Gemeinde sieht, trotz der Zuwächse in jüngster Zeit, nicht besonders rosig aus. Dies liege auch an verschäften Zuwanderungsbedingungen für jüdische Emigranten aus der GUS, sagt Wolfgang Nossen. Zudem hat die Gemeinde demografische Probleme: Über 50 Prozent der Erfurter Juden sind über 60 Jahre alt. »Wir haben kaum Nachwuchs. Viele jüngere Gemeindemitglieder verlassen die Stadt, um in westlichen Bundesländern zu studieren«, beklagt Nossen. Pessimistisch prognostiziert der Gemeindevorsitzende: »Wir sind ein aktiver Seniorenklub, der langsam vergreist.«

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