Big Brother steht in Karlsruhe vor Gericht

Verfassungsrichter verhandeln über Vorratsdatenspeicherung

  • Claus Dümde
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat heute zur mündlichen Verhandlung über die Ende 2007 von CDU/CSU und SPD beschlossene verdachtslose Speicherung sämtlicher Telekommunikationsverbindungsdaten in Deutschland geladen. Denn über 35 000 Bürger – weit mehr denn je zuvor – haben dagegen Verfassungsbeschwerde eingelegt.

Unter den Klägern ist auch Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die somit gegen die Bundesregierung klagt, der sie inzwischen selbst angehört. Wohl aus diesem Grund bleibt die Ministerin heute in Berlin, vertreten wird die schwarz-gelbe Regierung von ihrer Staatssekretärin. Man darf gespannt sein, ob und falls ja, wie diese das in der letzten Legislatur im Bundestag von Linken, Grünen und Liberalen abgelehnte Gesetz rechtfertigen wird. Es schreibt vor, für jeweils sechs Monate zu speichern, wer von wo aus wann mit wem und wie lange telefoniert, an wen SMS und E-Mails versendet oder wo im Internet gesurft hat.

Bundestagsvizepräsident Hermann Otto Solms (FDP), der ebenfalls zu den Klägern gehört, konstatierte unter Verweis auf ein vom Gericht beim Chaos Computer Club bestelltes Gutachten, »dass durch die Kombination verschiedener Datenquellen ein aussagekräftigeres Bild über jeden Einzelnen gezeichnet werden kann«. Mit Hilfe von Mobilfunkdaten könne man »feststellen, wer sich wann wo aufhält, mit wem wie oft und wie lange Kontakt hat, ja sogar, welchen Stellenwert eine Person in einer Gruppe hat. Auch ohne den Inhalt von Gesprächen, Kurzmitteilungen oder Mails zu kennen, lassen sich Beziehungsgeflechte ausmachen. Das Mobiltelefon wird dabei zu einer Ortungswanze, sofern dem speicherwütigen Staat nicht Einhalt geboten wird, wie einer der Autoren der Studie richtig konstatiert.«

Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, der die erste Verfassungsbeschwerde eingelegt hatte, warnt: »Die Aufzeichnung von Informationen über die Kommunikation, Bewegung und Mediennutzung jedes Bürgers stellt die bislang größte Gefahr für unser Recht auf ein selbstbestimmtes und privates Leben dar.« Die Vorratsdatenspeicherung greife »unverhältnismäßig in die persönliche Privatsphäre ein«. Sie beeinträchtige zudem berufliche Aktivitäten zum Beispiel von Anwälten, Ärzten, Journalisten, Seelsorgern und Unternehmern sowie politische Aktivitäten, die Vertraulichkeit voraussetzen. »Dadurch schadet sie letztlich unserer freiheitlichen Gesellschaft insgesamt.« Andererseits verhindere sie Terrorismus oder Kriminalität nicht, könne von Kriminellen leicht umgangen werden.

Diese Gefahren haben auch die Karlsruher Richter erkannt. Deshalb schränkten sie bereits durch zwei einstweilige Anordnungen die Nutzung auf diese Weise gewonnener Daten durch Strafverfolger, Polizei, Verfassungsschutz und andere Geheimdienste ein. Sie ist derzeit auf den Verdacht »schwerer Straftaten« beschränkt. Geheimdienste brauchen aber weiterhin keine richterliche Genehmigung, können also nach Belieben verfahren.

Die meisten Beschwerdeführer wären mit einer solchen Beschränkung der legalen Möglichkeiten für »Big Brother« nicht zufrieden, zumal alle Datenskandale der jüngsten Zeit zeigen, dass der Missbrauch einmal erhobener Daten letztlich nicht verhindert werden kann. Dass sich die Karlsruher Richter aber trauen, das Gesetz in Gänze für verfassungswidrig zu erklären, ist kaum zu erwarten. Obwohl sie jetzt erneut vom Deutschen Anwaltverein sowie von verschiedenen Journalisten- und Medienverbänden dazu aufgefordert wurden. Wahrscheinlich ist eher ein Urteil, das im Detail formuliert, welche Daten wozu genutzt werden dürfen.

Ansonsten müsste sich Karlsruhe schon wieder mit der EU und deren Gerichtshof anlegen, da die Vorratsdatenspeicherung ja auf eine EU-Richtlinie zurückgeht, die sie allen Mitgliedsländern zur Pflicht macht. Freilich ist darin ausdrücklich vorgesehen, dass die Daten nur zur »Ermittlung« und »Verfolgung« von »schweren Straftaten« genutzt werden sollen. Das schwarz-rote »Big Brother«-Gesetz von 2007 geht weit darüber hinaus.

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