Am Rande der schönsten Stadt

In der Pariser Banlieue hat sich seit den Unruhen von 2007 wenig getan

  • Birgit Holzer, Clichy-sous-Bois
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Vororte von Paris gelten als soziale Ghettos. Sie sind bekannt für brennende Autos und Unruhen, Armut und Perspektivlosigkeit – und weniger für Lichtblicke und die Hoffnung, es könnten einmal lebenswertere Städte daraus werden. Doch auch sie gibt es.

Zwischen der Stadtgrenze von Paris und Clichy-sous-Bois, einem Vorort im Nordosten, liegen nur 15 Kilometer. Dort, in der »schönsten Stadt der Welt«, die breiten Prachtboulevards und monumentalen Gebäude, die Theater und Cafés in den belebten Vierteln der französischen Hauptstadt. Hier die hohen Plattenbauten, mit Satellitenschüsseln übersät, und ärmliche Häuschen mit kleinen Vorgärten. Paris und Clichy-sous-Bois – ist das wirklich das gleiche Land?

Boutiquen sucht man vergeblich in Clichy-sous-Bois. Im Stadtkern finden sich ein paar Tante-Emma-Läden, doch belebter geht es auf dem Parkplatz vor dem Aldi-Supermarkt zu. Eine Bar für die 29 000 Bewohner des Ortes gibt es nicht, auch kein Kino oder Schwimmbad. »Wenn wir abends ausgehen, treffen wir uns bei Freunden oder bei McDonald's«, sagen Ayse und Ipek, die hier aufgewachsen sind. Um nach Paris zu fahren, müssen die 17-jährigen Freundinnen mehrmals umsteigen, für eine Tour sind sie eineinhalb Stunden unterwegs. »Darum bleiben wir meistens hier.« Ob und wo sie später studieren können, wissen sie nicht. Aber sie würden gern studieren. »Um allen zu zeigen: Du kannst es auch schaffen, wenn du aus der Banlieue kommst.« Wie die ganze Stadt hoffen sie auf die Ankündigung der französischen Regierung, bis zum Jahr 2015 eine Straßenbahnlinie zu bauen, die Paris in 45 Minuten erreichbar machen würde. Die Tram könnte die unsichtbare Einzäunung überrollen, die Clichy-sous-Bois zu einem sozialen Ghetto macht, das sich vor allem dadurch zu definieren scheint, was es nicht hat: Freizeitangebote, Arbeit, Geld, Anbindung an die Stadt.

Berühmt ist die Vorstadt trotzdem – oder gerade deshalb. 2005 und 2007 ging ihr Name um die Welt. Das Fernsehen zeigte Bilder von brennenden Autos und heftigen Straßenkämpfen zwischen Jugendlichen und Sicherheitskräften. Spätestens seit diesen Ereignissen prägt Clichy-sous-Bois die Vorstellung von den Pariser »Banlieues« als sozialen Brennpunkten, berüchtigt für Hoffnungslosigkeit, die in Gewaltexplosionen enden kann. Es braucht nur einen Auslöser.

Und wo stehen die Banlieues im Jahr 2009? Am selben Fleck, mit denselben Problemen, sagt Jacques Bourgoin, Bürgermeister von Gennevilliers, einem »heißen Pflaster« nordwestlich von Paris. Zwar habe der Präsident ein Ministerium für Integration und Immigration geschaffen, doch betreibe er reine »Spektakel- und Symbol-Politik«: Statt echter Vorbeugung und Hilfe für die Menschen sorge er nur für mehr Videoüberwachung. »Sarkozys einziges Thema ist: Sicherheit«, klagt auch Claude Dilain, Bürgermeister von Clichy-sous-Bois. Und die anderen Probleme, die Wohnmisere, die Arbeitslosigkeit, die Armut?

Einem staatlichen Bericht zufolge lebt ein Drittel der viereinhalb Millionen Menschen in den Problem-Vororten um Paris und fast jeder zweite Jugendliche unter der Armutsgrenze. Zwar ist es in Frankreich verboten, Statistiken über die ethnische Herkunft der Menschen zu führen, die offiziell Franzosen sind. Dass besonders viele Immigranten in den Vorstädten leben, ist jedoch kein Geheimnis. Die Arbeitslosenquote liegt hier mit 16,9 Prozent deutlich über dem Landesdurchschnitt, bei Jugendlichen erreicht sie sogar bis zu 40 Prozent. Wer aus den Banlieues stammt und einen fremdländischen Namen trägt, wird auf dem Arbeitsmarkt schnell aussortiert.

Über diese Stigmatisierung ist man wütend am Lycée Albert Nobel, dem Gymnasium in Clichy-sous-Bois. Grau und abweisend sieht es von außen aus, doch die Klassenräume sind hell und freundlich. 1100 Schüler lernen hier, ein Mix von 30 unterschiedlichen Nationalitäten. »Über unseren Ort spricht man nur schlecht. Das wird uns nicht gerecht«, sagt die Konrektorin Lydie Deluri. Hunderte von Journalisten seien 2005 und 2007 hier »eingefallen« und hätten die Menschen »wie im Zoo« abfotografiert. Fernsehteams bezahlten Jugendliche, damit diese vor der Kamera die Stimmung künstlich aufheizten. »Nie zeigen die Medien, dass es auch Lichtblicke gibt.«

Die Lichtblicke, das sind die Menschen, die sich in vielerlei Projekten dafür engagieren, dass die jungen Bewohner der Vorstädte mehr Chancen bekommen. So vermittelt sie die Pariser Agentur »Mozaïk« an Unternehmen, stellt ihnen Mentoren zur Seite. Der Verein »Afev« mobilisiert Studenten, die ehrenamtlich Kinder begleiten, bei den Hausaufgaben helfen oder einen Ausflug mit ihnen machen. »Und sei es nur, dass wir vorbeikommen und aus einem Buch vorlesen. Das tut sonst oft niemand in der Familie«, erklärt die 24-jährige Studentin Aurélie Sigère. Auch in den »Missions locales«, den kommunalen Betreuungsstellen, bekommen Heranwachsende aus den Problemvierteln Unterstützung bei Schulangelegenheiten, Ärger zu Hause oder bei der Jobsuche.

Darauf baut auch die 24-jährige Joséphine aus Gennevilliers. Trotz eines Wirtschaftsdiploms sucht sie seit Januar eine Stelle. »Wenn du aus der Banlieue stammst, fehlt dir das Netzwerk«, sagt sie. »Meine Eltern arbeiten 60 Stunden in der Woche hart. Ich will es mal besser haben als sie.«

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