Die verschwundene Grenze

Schlagbäume hoch: Seit zwei Jahren gibt es zwischen Passau und Usedom keine Zoll- und Passkontrollen mehr

  • Rainer Funke
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Ostgrenze der Bundesrepublik schlängelte sich über 1300 Kilometer entlang des Böhmer- und des Bayerischen Waldes, des Fichtel- und des Erzgebirges, der Neiße und der Oder bis hin zur Ostsee. Vor zwei Jahren, am 21. Dezember, hoben sich die Schlagbäume. Polizei- und Zollhäuschen wurden abgerissen. Doch wuchs zugleich die Sorge: Haben nun kriminelle Typen freie Bahn?

In der 1050-Seelen-Gemeinde Bayerisch Eisenstein am Fuße des Großen Arber schüttelt man den Kopf. »Solche Ängste gibt es bei uns eher nicht«, sagt Paul Wölfl, Geschäftsleiter des Rathauses. Sein Ort liegt unmittelbar an der einstigen Grenzmarkierung zu Tschechien nahe Zelezna Ruda (Markt Eisenstein). »Die mobilen Polizeikräfte sind allgegenwärtig, wenn auch nicht immer zu sehen«, meint er. Da werde Klauen schwierig. Zur tschechischen Nachbargemeinde sind es zwar keine drei Kilometer. Doch würden Diebe da oder dort meist von Polizeistreifen erwischt. Die Fahrzeugnummern der Tschechen, die im Ort arbeiten, seien bekannt. Und die anderen müssten schon mal auf Kontrollen gefasst sein. »Die Situation ist keine andere als vor der Grenzöffnung auch«, da ist sich Wölfl sicher.

Geblieben ist die Sprachbarriere

Vor allem die tschechische Seite sieht es als Ärgernis an, dass die Zufahrtstraße nach Zelezna Ruda zu einem hunderte Meter langen Markt geworden ist, der vor allem von Händlern geprägt wird, die aus aus dem fernen Vietnam hierhergekommen sein sollen. Sie verderben die Preise in Tschechien, heißt es, vor allem mit Waren, die gewöhnlich von Touristen erworben werden. Man hat es zudem mit reichlich Prostitution in 20 Bordellen und Nachtclubs zu tun. Hartnäckig hält sich der Verdacht, dass auf dieser Straße Geld aus finsteren Quellen gewaschen wird. Bordellkunden sollen vor allem Deutsche sein, Tschechen könnten sich das nicht leisten, sagt man in Zelezna Ruda. Aber öffentlich bestätigt hat diesseits des früheren Kontrollpunktes noch keiner die amouröse Verrichtung.

Inzwischen stammt jeder zweite Gastronomie-Beschäftigte in Eisenstein und Umgebung aus dem Nachbarland. Andere tschechische Bürger investieren auf deutscher Seite – etwa in Eigentumswohnungen oder Häuser. Tendenz steigend, so Wölfl. Offenbar hoffe man auf Käufer oder Mieter aus dem nicht fernen Prag. Von umgekehrtem Geldfluss hört man kaum etwas. Trotzdem ist eine Grenze geblieben – die Sprachgrenze. Darunter leidet der Austausch. Einen gewichtigen Grund sieht Paul Wölfl in den klammen Gemeindekassen auf beiden Seiten. Nur ein paar Vereine treffen sich regelmäßig, vornehmlich junge Leute.

Das 100 Kilometer südlicher gelegene Passau war bereits vor 2007 daran gewöhnt, mit einer offenen Grenze umzugehen. Denn Ende 1997 fielen die Schlagbäume via Österreich. Wie sich Rathaussprecher Herbert Zillinger erinnert, sei man damals weniger wegen potenzieller Diebe oder Schmuggler besorgt, sondern eher, weil durch unterschiedliche Steuersätze auf Kapitalerträge Geld abwandert. Und zwar dorthin, wo es den meisten Gewinn bringt. Dass Bürger zum Tanken nach Österreich fahren, könne man keinem verübeln, wenn er pro Füllung zehn Euro spare. »Aber die Verwerfungen bestehen etwa darin, dass jenseits der Donau ein Investor auf dem Gelände des alten Zollhauses eine Billigtankstelle mit 24 Zapfsäulen errichtet hat, die im Prinzip nur über eine einzige Brücke und durch enge Straßenzüge zu erreichen ist.« Und da komme es nicht selten zu kräftigen Staus, wenn an einem Wochenendtag 3000 Autos zur Grenze unterwegs sind. »Doch müssen wir deshalb neue Straßen und eine größere oder zweite Brücke bauen?«

Die Grenzöffnung zu Tschechien habe zu keinem nennenswerten Anstieg der Kriminalität geführt. Die Schleierfahndung konzentriert sich unter anderem auf die A3. An der Raststätte Donautal, die ja im Stadtgebiet liegt, werden vielfach Fälle von Schmuggel aufgedeckt, darunter solche mit Drogen, Tieren oder Fahrzeugen. »Die Passauer sind davon kaum betroffen«, denkt Zillinger.

Auch das Polizeipräsidium Oberpfalz in Regensburg bestätigt, dass von mehr Kriminalität bei offener Grenze kaum die Rede sein kann. Sprecher Thomas Plößl: »Wir bewegen uns ungefähr auf dem gleichen Level, auch bei schwereren Delikten wie Autodiebstahl, bei dem wir jährlich etwa 100 Fälle registrieren.« Es gebe Bereiche mit statistisch leichtem Anstieg und solche, bei denen die Zahl der Fälle sinkt. Es handele sich dabei aber um die in der Kriminalstatistik üblichen Schwankungen, die man oft nicht erklären könne.

Gemeinsam auf Polizeistreife

»Die professionellen Straftäter, die sich vom Osten in den Westen und/oder zurück bewegten, haben sich auch vorher nicht durch Grenzen aufhalten lassen«, erklärt Plößl und erläutert das Prinzip der inzwischen üblichen Schleierfahndung: Seit die stationären Kontrollen an der Grenze weggefallen sind, kontrolliert die Polizei mobil, und zwar bis zu einer Tiefe von 30 Kilometer landeinwärts. Nach gängiger Erfahrung und einem gewissen Selektionsmuster werden Leute und Fahrzeuge überprüft. Das gilt weniger dem Opa, der mehr Schnaps als erlaubt mitgebracht hat, sondern der organisierten Kriminalität, dem Kfz.-Dieb, Einbrecher, Dealer, Menschenhändler – vornehmlich auf schnellen Ein- und Ausreisewegen, nämlich den Autobahnen, sowie auf Durchgangsstraßen auch im Landesinneren. Das hätte sich bereits nach Öffnung der Südgrenze zu Österreich bewährt. Der Unsicherheitsfaktor für die Straftäter, ob man sie stellen würde oder nicht, sei ungemein hoch.

Die Zusammenarbeit mit der Polizei Tschechiens bezeichnete Plößl als ziemlich effektiv. Man tausche Details zu aktuellen Fällen aus, gehe zusammen auf Streife oder sei zu gemeinsamen Fahndungen unterwegs. Selbst wenn im tschechischen Domazlice, jenseits der Grenze nahe Furth im Wald, ein Fest gefeiert wird, gehen bayerische Polizisten mit auf Streife, weil an solchen Tagen auch viele Landsleute drüben sind. Umgekehrt kann es dann in Cham oder einer anderen grenznahen oberpfälzischen Stadt sein, wenn tschechische Bürger kommen.

Tatsächlich scheint das Kriminalitätsaufkommen in den einzelnen Ortschaften entlang der verschwundenen Grenze durchaus unterschiedlich zu sein. Aus Ebersbach und anderen sächsischen Orten vernimmt man die Kunde, dass beinahe jeden Tag ein Auto verschwindet, mehr als früher Garagen und Lauben aufgebrochen, Gemüse und Obst illegal geerntet werden. Gerätschaft verschwindet. Nur die Gartenzwerge nimmt niemand mit, heißt es. Wie anderswo glaubt allerdings kaum jemand, dass die Täter unbedingt aus dem Nachbarland stammen würden. Vielmehr wird vermutet, dass sich deutsche Ganoven der leider noch immer nicht verschwundenen Vorurteile gegenüber Bewohnern der anderen Seite bedienen, um ihre Raubzüge zu tarnen.

Im Land Brandenburg befinden sich 25 Städte und Gemeinden im einstigen Grenzland. Hier sank die Kriminalität, wie Innenminister Rainer Speer (SPD) diese Woche sagte, in den ersten drei Quartalen um 7,2 Prozent auf 16 620 Fälle. Dagegen nahmen Autoklau sowie Diebstähle aus Gärten und Bungalows um 16,1 bzw. 65,2 Prozent zu. Die Kriminalitätsbelastung sei in den Grenzregionen weitaus höher als in anderen märkischen Kreisen, stellt Speer fest. Ärger und Sorgen der Leute dort seien sehr ernst zu nehmen.

Autos wurden schon immer geklaut

Andreas Schuster, brandenburgischer Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, kritisiert, dass es trotz erheblichen polizeilichen Drucks etwa in Frankfurt (Oder) zu besagtem Anstieg gekommen ist. Man habe lediglich einen Verdrängungseffekt bewirkt. Jetzt werden Autodiebstähle vermehrt in Schwedt oder Guben registriert. Das objektive wie auch das subjektive Sicherheitsgefühl der Bürger sei deutlich beschädigt. Menschen-, Rauschgift- und Waffenhandel würden in einem enorm großen Dunkelfeld abgewickelt. Aber zugleich sei der Kontrolldruck in den letzten beiden Jahren erheblich gesunken. Entgegensteuern könne man dieser Entwicklung nur, wenn der anhaltende Personalabbau gestoppt und gemeinsam mit polnischer und Bundespolizei verschärft gegen Kriminalität im grenznahen Raum vorgegangen würde.

Auch Berlin gehört gewissermaßen zum Grenzland. Nach mehrjährigem Absinken der Fallzahlen beim Autoklau sind sie 2008 um drei Prozent angestiegen, bis Oktober dieses Jahres aber bereits um knappe 40 Prozent – 4994 Autos. »Ein Zusammenhang mit der Grenzöffnung zu den östlichen Nachbarländern ist anzunehmen«, äußerte sich das Polizeipräsidium. Allerdings: Vor 15 Jahren wurden in der Hauptstadt 29 000 Autos entwendet.

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