Abschied von der Geometrie Euklids

Vor 150 Jahren starb der ungarische Mathematiker János Bolyai

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

In einer Ebene gibt es durch jeden Punkt, der außerhalb einer Geraden g liegt, genau eine Gerade h, die g nicht schneidet. Die Geraden g und h werden als Parallelen bezeichnet. Schon der griechische Mathematiker Euklid hatte eine äquivalente Formulierung dieses Satzes als fünftes Postulat in sein Hauptwerk »Die Elemente« aufgenommen.

Dennoch versuchten Mathematiker fast 2000 Jahre lang, das Parallelenpostulat aus anderen Grundannahmen abzuleiten. Ohne Erfolg. Einer, der hingegen von der Unabhängigkeit des Parallelenpostulats überzeugt war, war der deutsche Mathematiker Carl Friedrich Gauß (1777-1855). Folgerichtig ging er davon aus, dass auch Geometrien widerspruchsfrei konstruiert werden können, in denen Euklids Parallelensatz nicht gilt. Allerdings verzichtete Gauß darauf, diese Ideen zu publizieren, da er befürchtete, nicht verstanden oder gar belächelt zu werden.

Irgendwann erreichte Gauß jedoch ein Brief seines ehemaligen Studienfreundes Farkas Bolyai, der darin nicht ohne Sorge von den mathematischen Arbeiten seines Sohnes János berichtete. Dieser hatte ebenfalls eine von Euklid abweichende Geometrie entwickelt, in der durch einen Punkt außerhalb einer Geraden unendliche viele Parallelen gehen und die heute als hyperbolische nichteuklidische Geometrie bezeichnet wird.

János Bolyai wurde am 15. Dezember 1802 in Klausenburg (heute Cluj, Rumänien) geboren. Er studierte Ingenieurwesen an der Militärakademie in Wien und trat 1823 der Armee bei. Dort blieb er elf Jahre. Danach lebte er auf dem Gut seiner Familie, wo er sich voller Hingabe mit dem euklidischen Parallelenpostulat beschäftigte. Seine Gedanken zur nichteuklidischen Geometrie veröffentlichte er erstmals 1832 als Anhang zu einem Lehrbuch seines Vaters – nicht ohne darin selbstbewusst zu erklären, er, János Bolyai, habe das Wesen des Parallelenpostulats »vollends ergründet« und »vollkommen durchdrungen«.

Zwar lobte Gauß die Arbeit des jungen Ungarn, den er als ein »Genie erster Größe« bezeichnete. Aber er fügte auch hinzu, dass er vor Jahren selbst zu ähnlichen Erkenntnissen gelangt sei. János Bolyai traf diese »Enthüllung« wie ein Stich ins Herz. Denn trotz aller ermutigenden Worte gebührte ihm nicht die Priorität der Entdeckung. Dass er auch späterhin wenig Anerkennung fand, lag nicht zuletzt an der knappen und teilweise ungeschickten Darstellung seiner Ergebnisse, meint der Leipziger Mathematikhistoriker Hans Wußing. Am Ende ließ Bolyai ganz von der Mathematik ab und starb verbittert am 17. Januar 1860 in Neumarkt am Mieresch.

Neben Bolyai entwickelte auch der russische Mathematiker Nikolai Lobatschewski (1792-1856) eine hyperbolische nichteuklidische Geometrie. Natürlich ist auch der Fall denkbar, dass durch einen Punkt außerhalb einer Geraden gar keine Parallele verläuft. Eine solche elliptische nichteuklidische Geometrie wurde von dem deutschen Mathematiker Bernhard Riemann (1826-1866) konstruiert, dem es überdies gelang, eine nichteuklidische Geometrie allgemeinster Art zu schaffen. Von Riemann stammt zudem die kühne Vermutung, dass die Maßverhältnisse des Raumes abhängig seien von den physikalischen Vorgängen, die sich darin abspielen.

In der Wissenschaft des späten 19. Jahrhunderts führten die nichteuklidischen Geometrien nur ein Schattendasein. Denn sie waren nicht mit dem Anspruch entwickelt worden, die menschliche Raumerfahrung zu präzisieren. Darüber hinaus hielten zahlreiche Anhänger der Kantschen Philosophie die euklidische Geometrie für eine Denknotwendigkeit und taten somit alles Nichteuklidische als fruchtlose Spekulation ab.

Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden nichteuklidische Geometrien auch praktische Anwendung. Namentlich bei der Begründung der allgemeinen Relativitätstheorie rückte das Verhältnis von Geometrie und Realwelt ins Blickfeld der Physiker. Hiervon ausgehend gewann Albert Einstein die Erkenntnis, dass das vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum gekrümmt und mithin nichteuklidisch ist. Die Gravitation selbst identifizierte er mit der Krümmung der Raumzeit und führte die Gesetze der Schwere auf die Maßverhältnisse der Riemannschen Geometrie zurück. Der Begriff der Schwerkraft im Sinne Newtons wurde sonach hinfällig. Damit hatte Einstein erstmals die Möglichkeit geschaffen, die Sätze der Geometrie physikalisch, sprich experimentell zu untersuchen.

Daran anknüpfend stellten Wissenschaftler schon bald die Frage: Welche geometrische Struktur besitzt das Universum »im Großen«? Bis heute ist diese Frage unbeantwortet. Denn um sie beantworten zu können, müsste man wissen, wie viel Materie und Energie es summa summarum gibt. Abhängig davon kann das Universum nach den Einsteinschen Gleichungen sowohl flach als auch positiv bzw. negativ gekrümmt sein. Hält man sich an die gegenwärtig besten Beobachtungsdaten, dann deutet alles darauf hin, dass die Krümmung des Universums den Wert Null nicht nennenswert überschreitet.

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