»Das war wie ein zweites Exil«

Die Geschichten der Emigranten interessieren in Chile kaum jemand

  • Josefine Janert
  • Lesedauer: 6 Min.
Nach dem Putsch in Chile im September 1973 nahm die DDR rund 2000 Flüchtlinge auf. 20 Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur will in ihrer Heimat kaum jemand die Geschichten über ihr Exil hören.
Jedes Jahr am 11. September wird wie hier 2009 am Allende-Denkmal nahe der Moneda, des Regierungspalastes in Santiago, an die Opfer des Militärputsches von 1973 erinnert.
Jedes Jahr am 11. September wird wie hier 2009 am Allende-Denkmal nahe der Moneda, des Regierungspalastes in Santiago, an die Opfer des Militärputsches von 1973 erinnert.

Die Villa Grimaldi am östlichen Rand von Santiago de Chile ist ein schrecklicher Ort. Wo heute in einer Gedenkstätte Rosen wachsen und ein Springbrunnen plätschert, ließ Pinochets Militärdiktatur in den 70er Jahren Regimegegner quälen und umbringen – Gewerkschafter, Linke, Mitglieder von Basisorganisationen. Nur noch die Grundmauern der Villa sind erhalten. In den Rasen eingelassene Steine erinnern an das Leid. Fotos der Opfer stehen vor der Kulisse der Anden, die sich unweit der chilenischen Hauptstadt erheben.

Das Land tut sich schwer mit der Aufarbeitung der Militärjunta, die 1973 gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende putschte und bis zum Amtsantritt des demokratischen Präsidenten Patricio Aylwin im März 1990 Tausende von Chilenen das Leben kostete oder ins Exil trieb. In der DDR kamen 2000 Chilenen unter, auch Michelle Bachelet, eine Sozialistin, die im Jahr 2006 zur Präsidentin gewählt wurde und die nach der Stichwahl vom Wochenende von dem Konservativen Sebastián Piñera abgelöst wird.

Freundschaften bis heute

Bachelet wagte entschiedener als ihre Amtsvorgänger, sich mit der Diktatur auseinander zu setzen. So lud sie zum Jahrestag des Putsches am 11. September 2009 zu einer Gedenkstunde in die Moneda ein, den Regierungspalast, der 1973 von der Junta bombardiert worden war. Dennoch: »Die chilenische Öffentlichkeit interessiert sich nicht für das Schicksal der Exilierten. Viele Leute denken: Das war doch deren private Angelegenheit.« Das sagt José Lorenzo Muñoz, ein Agronom, der nach dem Putsch mit seiner Frau Ana und zwei Kindern in die DDR fliehen musste, weil er sich in der Sozialistischen Partei engagiert und ein Staatsunternehmen geleitet hatte. José und Ana waren 28 und 24, als sie 1974 auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld eintrafen. Sie blieben bis 1982. Heute wohnen sie in der Nähe von Santiago.

Auch Camilo Guzmán klagt über das Desinteresse seiner Landsleute. Die Militärs verfolgten ihn, weil er sich für ein Programm engagiert hatte, das Arbeiterkinder an die Unis bringen sollte. Guzmán floh in die Bundesrepublik, er leitet heute eine chilenisch-deutsche Freundschaftsgesellschaft in Santiago, die auch mit Mitteln des deutschen Staates Exilierte bei der Rückkehr nach Chile unterstützt. »Die Militärs ließen die Medien Propaganda verbreiten«, sagt Guzmán. »Es hieß, dass die Chilenen im Exil ein luxuriöses Leben führten – was nicht stimmte.« Viele hätten außerdem bei ihrem Neustart in Chile Schwierigkeiten gehabt. Die begannen damit, dass sie laut den Dokumenten, die während der Diktatur ausgestellt worden waren, als Terroristen galten – und folglich auf dem Arbeitsmarkt wenig Chancen hatten. »Die Kinder der Rückkehrer sprachen zwar Spanisch, aber das Spanisch, das zu Hause geredet wird, eine reduzierte Sprache«, sagt Guzmán. »Sie waren zwar auf dem Papier Chilenen, aber nach so vielen Jahren in Deutschland doch eher Deutsche.« Viele Flüchtlinge kehrten zwischen 1990 und 1993 in ihre Heimat zurück. Camilo Guzmán ließ sich in Santiago nieder, wo er niemand kannte. »Du musst dein Leben völlig neu organisieren«, sagt er. »Das war wie ein zweites Exil.«

Beide deutsche Staaten hatten nach dem Putsch sofort Flüchtlinge aufgenommen. In den von der SPD regierten Bundesländern hatten sie es deutlich einfacher als in denen, wo die CDU das Sagen hatte, berichtet Guzmán. In der DDR regelten der Staat und die SED die Aufnahme. In Zusammenarbeit mit dem Komitee Antifaschistisches Chile, das wie eine Art Botschaft des demokratischen Chile in Berlin-Pankow agierte, bestimmten die Funktionäre die Angelegenheiten der Exilierten oft bis ins Detail. Margarita Concha, die 18-jährig in die DDR kam, erinnert sich: »Dass wir uns in Halle-Neustadt niederließen, hatten nicht mein Mann und ich entschieden, sondern die DDR-Regierung gemeinsam mit dem Komitee.« Das Angebot, eine Krankenpflegeschule zu besuchen, nahm die Aktivistin des Kommunistischen Jugendverbandes sofort an – und bereute es nie. Kollegen und Nachbarn seien freundlich und hilfsbereit gewesen, erzählt Concha, die nun wieder in Santiago lebt. »Mit einigen bin ich bis heute befreundet.«

Staats- und Parteifunktionäre bestimmten in Zusammenarbeit mit dem Komitee auch, welche Exilchilenen zu welchem Anlass ins westliche Ausland reisen durften. Innerhalb des Ostblocks konnten sie sich frei bewegen. Viele Exilchilenen registrierten die Überwachung durch den Staat, die Pressezensur und vieles mehr allzu deutlich, stammten sie doch aus einem Land, wo der sozialistische Präsident frei gewählt worden war. Andere waren einfach froh, ihr Leben gerettet zu haben.

Die Meinungen der Rückkehrer über die DDR fallen daher unterschiedlich aus. »Nie wieder habe ich einen Lebensstandard wie in der DDR erreicht«, sagt Carmen Arevaloa, deren Ehemann Jorge Kommunist war. »Es war wie in einer Oase der Sicherheit und des Friedens.« Sie erzählt, dass sich ihre Familie nach der Rückkehr nach Chile keinen Urlaub habe gönnen können. In der DDR sei das selbstverständlich gewesen.

»Ich habe ein widersprüchliches Gefühl gegenüber der DDR«, sagt hingegen der Schriftsteller Roberto Ampuero, der die DDR 1983 verließ – Richtung Bonn. Einerseits habe die DDR generöses Asyl gewährt, andererseits habe er sich mit den Verhältnissen nicht abfinden können: »Die entscheidende Frage war für mich: Wünschst du dir das hiesige System für dein Land, deine Familie?« Seine Antwort: Nein. Weil er vom real existierenden Sozialismus enttäuscht war, hatte er schon 1976 auf Kuba sein Mitgliedsbuch an den Kommunistischen Jugendverband zurückgegeben. Heute lebt er in Iowa, wo er Spanisch lehrt.

Hausstand und Deutschunterricht

Viele politische Flüchtlinge aus Chile waren sehr jung. Für die meisten war der Flug nach Berlin die erste Auslandsreise. Sie trafen in einem Land ein, das kaum Erfahrungen mit Flüchtlingen hatte – jedenfalls in dieser großen Zahl. In dem die Menschen andere Moralvorstellungen hatten als im katholisch geprägten Chile. »Ich bekam Einladungen ins Bett«, erzählt eine Frau. »Und die Aufforderung: Überlass mir deinen Mann für heute Nacht.« Sie habe die DDR auch deshalb verlassen, weil sie nicht wollte, dass ihre Kinder ihre Pubertät dort erlebten. »Wir dachten auch, wenn sie dort heiraten, könnten wir nicht mehr nach Chile zurück. Aber das war unser Ziel.«

José Lorenzo Muñoz und seine Frau Ana kamen nach der Ankunft in Berlin nach Eisenhüttenstadt, wo die Behörden ein ganzes Hotel für die Chilenen bereitgestellt hatten. Dort wurden sie medizinisch versorgt, erhielten Deutschunterricht. Nach einem Monat wurden sie gefragt, wo sie leben wollten. Sie entschieden sich für Magdeburg, weil sie sich dort die besten beruflichen Möglichkeiten erhofften. Ein Funktionär ging mit der Familie ins Warenhaus, wo sie sich alles aussuchen durften, was sie für den neuen Hausstand benötigten – vom Löffel bis zur Gardine. Am folgenden Tag wurde alles geliefert, wurden die Haushaltsgeräte installiert. »Erst hieß es, das sei ein Kredit«, sagt Muñoz. »Aber wir mussten ihn nie zurückzahlen.«

Ihre Kollegen und Nachbarn seien an Chile sehr interessiert gewesen. »Manche fragten, ob wir dort in Häusern lebten und Messer und Gabel zum Essen benutzten«, sagt Ana. Die meisten Deutschen seien aber gut informiert gewesen, vor allem über die Allende-Zeit.

José Lorenzos Geschichte und die der anderen Rückkehrer müssen in Chile noch erzählt werden. »Ich hätte mit meinen Geschwistern gern über das Exil gesprochen«, sagt Margarita Concha. »Aber sie wollten mir kaum zuhören. In ihren Augen ist es ein Lapsus, dass ich während all der Jahre nicht in Chile war.«

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