Wie dieser Mensch die Tiere sieht

Das Bestiarium des Walton Ford im Hamburger Bahnhof, Berlin

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 4 Min.

Ja, wie sieht dieser Walton Ford eine uns weitgehend fremd gewordene, für ihn offenbar ganz nahe elementare Tierwelt? Ein fünfzigjähriger Maler von der US-amerikanischen Ostküste taucht in die ferne Vergangenheit der Kolonisierung des Kontinents ein. Der professionell bemerkenswert perfekte Darsteller der sichtbaren Welt findet dort aufsehenerregende Zeugnisse von Mensch und Tier. Er lässt konsequent Ersteren beiseite und konzentriert sich ganz auf die wildlebende Kreatur. Er findet oder erfindet abenteuerlich zugespitzte Storys von seltenen Tierschicksalen – und zeichnet sie in übergroßen farbigen Panoramen auf. Nach der Versuchung, sich als wissenschaftlicher Illustrator oder Schöpfer von Naturfilmen zu etablieren, hat der häufig über Wochen in wilden Wäldern Wandernde nun seinen Ruhepunkt im Maleratelier gefunden. In Great Barrington (Bundesstaat Massachusetts) verwandelte er einen alten Eisenbahnschuppen in eine Wohnung für die Familie mit zwei Töchtern sowie zum Arbeitsplatz für die Entstehung seiner Großformate.

Bei seinem persönlichen Auftreten zur Eröffnung seiner ersten Ausstellung auf europäischen Territorium im Hamburger Bahnhof Berlin beeindruckte er die Gäste mit wortreichen wie temperamentvollen Ausführungen dazu. Die in unendlich vielen Facetten detailbesessen durchgezeichneten und dennoch souverän bewältigten Kompositionen erschließen sich jedoch bei intensiver Betrachtung auch so. Das Museum ist wie verwandelt: Die im oberen Saal des Ostflügels über dem Restaurant an mattgrünen Wänden prangenden Bilder schaffen eine an diesem Platz ungewohnte Atmosphäre. Sämtliche naturalistischen Einzelheiten werden sozusagen nachgeliefert, die in allen anderen Exponaten des Hamburger Bahnhofs tunlichst vermieden, ja geradezu programmatisch eliminiert sind. Der modisch blank polierte Glatzkopf aus Übersee überführt unversehens ironisch verfremdend eine Tradition in eine ungewohnt andere Moderne. Das ist schon faszinierend.

Der todernst gebetsmühlenartig zelebrierte Minimalismus hat sich installationsfixiert und objektabhängig derart erschöpft, dass er eine Auffrischung vom anderen Extrem her durchaus gebrauchen kann. Walton Ford setzt da nur schlitzohrig satirisch das fort, was andere im schlichten Zitat schon vorexerzierten: Im westlichen Seitenbau des Bahnhofs finden wir gleich am Beginn der Sammlung Flick den Raum mit der Palmen-Wintergarten-Installation von Marcel Broodthaers aus dem Jahr 1974. Da sind die Originalstiche mit Tiermotiven von J. Stewart aus dem 19. Jahrhundert integriert. Ein Rohmaterial, das Walton Ford seit Kindheitstagen in- und auswendig kennt. Und auf ungleich schöpferischere Weise umformt. Die meist extrem statisch gesehenen Tiere der Originalvorlagen versetzt er als lebhafter Animateur in leidenschaftliche Bewegung. Ja, er leistet sich doch tatsächlich den geistigen Luxus von Bild-Ideen. Man muss diese allerdings aus den Bildern herauslesen.

In monumentaler Sicht werden Psychogramme geschundener Tierseelen gegeben – eine oft sarkastische und dennoch heroisierende Paraphrase über den legendären Kampf ums Dasein. »Delirium Golden Eagle«: Der mit Schnappfalle an den Krallen gefesselte Adler erhebt sich ein letztes Mal in die Lüfte. »A monster from Guiny«: Großer Pavian blickt im Bürosessel angekettet geradezu menschlich altklug. »Le Jardin«: Der finster majestätisch aufragende Auerochs erwartet voller Würde die endgültige Attacke der ihn belauernden schneeweißen Wolfsmeute. »Falling Bough«: Myriaden von Taubenkörpern krallen sich surreal an einem schwebenden Baumast fest. »The Island«: Wiederum eine Ballung von Tierleibern – hier der am Bluff River zu Tode gehetzten letzten Thylacine, fälschlich Tiger genannt. Ob Elefanten oder Antilopen, Pfauen oder Vogelstare – alle bevölkern seine Menagerie.

Eine weitere erstaunliche Tatsache ist Walton Fords zeichnerische Machart. Ich kenne kaum ein Beispiel, dass ein Künstler bis in diese Größenausmaße hinein mit feinem Pinsel Aquarell und Gouache (eine Art Tempera) beherrschen würde. Vergleichbare virtuose Meister auf dem Zeichenpapier wie Michael Matthias Prechtl oder Werner Tübke gingen dabei über ein Format von einem halben Meter nie hinaus. Tübke malte voluminöse zeichnerische Strukturen beim Frankenhausener Panoramabild selbstverständlich in Öl. Dabei ist dennoch eine Parallele zu Walton Ford zu beobachten: Das monumentale Format suggeriert Bedrohlichkeit und das Überdeutliche einer scheinbaren Nähe gleichzeitig. Bei Ford kommt hinzu, dass über die Silhouette meist eine Seitenansicht gegeben wird, die uns in die Rolle des distanzierten, also neutralen Betrachters drängt. Es bleibt jedem selbst überlassen, ob er sich ins Bildgeschehen hineinversetzt – oder ob er Abstand hält und sich abwendet.

Walton Ford – Bestiarium. Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Invalidenstraße 50/51, 10557 Berlin, bis 24.05., Di-Fr 10-18 Sa 11-20 So 11-18 Uhr

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