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  • Bundesverfassungsgericht: Berechnung der Hartz-IV-Sätze ist verfassungswidrig

Hartz IV jahrelang falsch berechnet

Karlsruhe verlangt bis Ende 2010 grundgesetzkonforme Grundlage für Regelsätze

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Die Hartz-IV-Regelsätze sind auf einer grundgesetzwidrigen Grundlage berechnet worden – so lautet das lange erwartete Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Sozialverbände und linke Politiker jubeln – dass die Sätze dadurch steigen werden, steht aber noch gar nicht fest.

Karlsruhe (Agenturen/ND). Das Bundesverfassungsgericht hat die bisherigen Hartz-IV-Leistungen für verfassungswidrig erklärt. Dem am Dienstag verkündeten Urteil zufolge muss der Gesetzgeber bis zum Jahresende die Leistungen neu fassen und für Kinder neu berechnen. Schon bis dahin können Hilfebedürftige ergänzende Leistungen beanspruchen, wenn dies für ein menschenwürdiges Existenzminimum erforderlich ist.

Die Hartz-IV-Sätze sind demnach allerdings nicht »evident unzureichend«. Rückwirkend höhere Leistungen für die knapp sieben Millionen Betroffenen lehnte das Gericht daher ab. In der Urteilsbegründung sagte Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier, die Höhe der Leistungen sei aus dem Grundgesetz nicht direkt abzuleiten. Die Sätze seien aber nicht verfassungsmäßig ermittelt worden und müssten neu berechnet werden.

Die Hartz-IV-Leistungen gehen von einer »Eckregelleistung« von 359 Euro aus. Sie wurde aus Einkommen und Verbrauch der ärmsten 20 Prozent der Alleinstehenden berechnet. Die Berechnungsmethode sei zulässig, vom ermittelten Bedarf seien aber unzulässige Abschläge gemacht worden. So gebe es Abzüge für Pelze und Segelflugzeuge, ohne dass geprüft wurde, ob das untere Einkommensfünftel dafür überhaupt Geld ausgebe.

Menschen, die mehr brauchen, etwa für Kleidung in Übergrößen, könnten diesen Bedarf mit der Regelleistung zudem nicht decken. Eine Härtefallregelung müsse daher zwingend Teil der Neuregelung sein. Betroffene könnten entsprechende Zuschläge ab sofort geltend machen – bezahlen muss dies der Bund. Der Berliner Anwaltsverein will am Freitag eine Beratung für Hartz-IV-Betroffene einrichten, die ihre Ansprüche überprüfen lassen wollen.

Besonders scharf rügte das Gericht die Leistungen für rund 1,7 Millionen Kinder. Der Gesetzgeber habe eigenständige Ermittlungen unterlassen. »Schätzungen ins Blaue hinein« seien mit einem menschenwürdigen Existenzminimum nicht vereinbar, so Papier.

Familie Kerber-Schiel, eine der Klagenden, zeigte sich nach der Urteilsverkündung enttäuscht: »Für uns ist das ein Wischi-Waschi-Urteil.« Wegen der dem Gesetzgeber eingeräumten Nachbesserungsfrist erhalten sie keine rückwirkenden Zahlungen. »Fünf Jahre lang wurde hier wegen viel zu geringer Hartz-IV-Leistungen die Menschenwürde verletzt, und jetzt gibt es nichts«, sagte der Anwalt der Familie, Martin Reucher.

Sozialverbände, Erwerbsloseninitiativen und Parteien jubelten jedoch nach der Urteilsverkündung unisono. Hartz IV sei »endgültig gescheitert«, sagte der Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion der LINKEN, Gregor Gysi. Von einer »schallenden Ohrfeige für die Bundesregierung« sprach der Paritätische Wohlfahrtsverband. Auch aus der SPD, die unter Bundeskanzler Gerhard Schröder die Agenda 2010 beschlossen hatte, tönten freudige Stimmen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, sah in der Entscheidung den ersten Schritt hin zu einem Mindestlohn und erwartet bald mehr Geld für Langzeitarbeitslose.

Doch ob diese Erwartung, die auch die Sozialverbände teilen, sich tatsächlich erfüllt, ist noch lange nicht klar – zunächst muss die Politik nur eine neue Berechnungsgrundlage bestimmen.

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