Die romantischen Geschichten

Matti Geschonneck: Boxhagener Platz

  • F.-B. Habel
  • Lesedauer: 3 Min.

Erst rückblickend stellen wir oft fest, in welch aufregender Zeit wir aufgewachsen sind. Das Besondere, das in unserem Alltag steckte, wird offenbar, wenn der Erwachsene darüber nachdenkt. Besonders erhellend ist es, wenn sich aus der Perspektive des Heranwachsenden die Realität auf poetische Weise verschiebt. Das gelang Torsten Schulz, Jahrgang 1959, in seiner umfangreichen, ebenso skurrilen wie wirklichkeitsnahen Erzählung »Boxhagener Platz«. Er wuchs in Berlin am Boxhagener Platz heran, und ebenso, nur etwa zehn Jahre zuvor, der Regisseur Matti Geschonneck, der nun einen Kinofilm aus Schulz' Stoff gemacht hat. Er führt in ein Berliner Arbeiterviertel mit all seinen eigenwilligen Bewohnern, und in eine Zeit, in der der Berliner zwischen Vergangenheit und Gegenwart pendelt, zwischen dem »überkommenen« kleinbürgerlichen Lebensgefühl und dem ehrlichen antifaschistischen Aufbauwillen, zwischen leiblichen Genüssen und dem Studium der »Klassiker«, zwischen der Sehnsucht nach den Annehmlichkeiten des Westens und dem gemütlichen Einrichten im Sozialismus Marke »DDR«.

Das könnte leicht peinlich werden, aber Schulz hat einen genialen Kunstgriff getan. Im Mittelpunkt stehen bei ihm zwei Personen, die quasi nicht in die Zeit gehören: Oma Otti, weil sie alt ist und zu viel vom Leben kennt, und Enkel Holger, weil er erst zwölf ist und noch zu wenig weiß. Aber Holger ist ein stiller Beobachter, der das Leben und die Ansichten der Erwachsenen in sich aufsaugt und auf seine fantasievolle Weise verändert.

Als Berliner Heimatfilm angekündigt ist der Film zugleich schwarze Komödie und Krimi. Denn Oma Otti wird von Fisch-Winkler (Horst Krause) verehrt, der eines Morgens in seinem Laden erschlagen aufgefunden wird. Ist nicht schlimm, er war einst ein Nazi-Mitläufer. Während Ottis derzeitiger sechster Ehemann (Hermann Beyer) meckernd im Bett dahinsiecht, hat sich schon ihr nächster Verehrer, der alte Spartakuskämpfer Karl Wegner, bei ihr eingekratzt. Holger freundet sich mit dem lebenserfahrenen Mann an.

Buch und Regie haben das Berliner Kiez-Leben der sechziger Jahre liebevoll aufgegriffen und bis zur Kenntlichkeit entstellt. Dabei gibt es Zuspitzungen und Überdrehungen. Die Verbindung zu den Studentenunruhen in Westberlin war vielleicht etwas weit hergeholt. In der Auseinandersetzung der Ideologien liegt jedoch eine hohe Aktualität. Lothar Holler schuf eine Ausstattung mit Wiedererkennungswert, und mancher wird auch seine Sonnenallee entdecken.

»Boxhagener Platz« ist vor allem ein Film großer Schauspieler. Michael Gwisdek (mit »Boxi«-Erfahrung) zeigt den Karl als eine Berliner Type mit Klassenstandpunkt, aber auch mit Zweifeln an der Gegenwart. Jürgen Vogel und Meret Becker geben Holgers Eltern als ein proletarisches Paar: Der Vater hat sich als Volkspolizist mit den Gegebenheiten arrangiert, die Mutter träumt, mehr oder weniger heimlich, vom Westen. Funktionieren kann der ganze Film nur deshalb, weil sich Samuel Schneider als Holger so zurückhält, mehr beobachtet als eingreift, aber immer den weiterdenkenden Jugendlichen erkennen lässt. Das Ereignis des Films ist aber die grandiose Gudrun Ritter, die der Otti viele Nuancen gibt. Sie spielt ihre weiblichen wie ihre mütterlichen Züge aus, fällt auf herzerwärmende Weise auf romantische Geschichten herein und macht doch die schnoddrige Berlinerin glaubhaft, die die Erzgebirglerin in den vergangenen fünfzig Jahren auch wirklich geworden ist.

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