Ewiger Kampf um Anerkennung

Behindertensportler wollen öffentliche Wahrnehmung und Gleichberechtigung

  • Ronny Blaschke, Vancouver
  • Lesedauer: 5 Min.

Friedhelm Julius Beucher ist in Eile. Gerade hat er sich mit Mitgliedern des Bundestages getroffen, nun muss er nach Whistler in die Berge. Zwanzig Minuten bleiben, ein Zeitfenster, um zu werben, zu fördern, zu fordern. »Wir wollen kein Mitleid, wir wünschen uns Respekt«, sagt der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS). »Wir betreiben keinen Nischensport, aber in den Medien werden wir in eine Nische zurückfallen.« Beucher trägt einen weißen Sportanzug, vor seiner Brust baumelt die Akkreditierung. Er hat viele Termine, wenig Zeit. Nicht in dieser Hotellobby in Vancouver Downtown – und auch nicht als Gast in der Öffentlichkeit.

Zehn Tage dauern die Winterspiele von 505 Behindertensportlern aus 44 Ländern, die heute in Vancouver eröffnet werden. Friedhelm Julius Beucher ist seit neun Monaten Verbandschef, es sind seine ersten Spiele im Amt. Zehn Tage bleiben ihm, um seinem Ziel einen kleinen Schritt näher zu kommen: der Gleichberechtigung von behinderten und nichtbehinderten Athleten. In der Finanzierung, in der Infrastruktur, in den Medien. Zehn Tage hat er, um zu realisieren, was seine Vorgänger nicht realisieren konnten: Das Ziel ist eine Illusion.

Als die Olympioniken vergangene Woche in München empfangen und die Paralympier zugleich verabschiedet wurden, kümmerte sich kaum jemand um sie. »Im Herzen finden alle ganz toll, was wir machen«, sagt der sehgeschädigte Skisportler Frank Höfle, der heute die Flagge der zwanzig deutschen Athleten in Vancouver tragen wird. »Aber der Kopf sagt bei vielen immer noch: Ach, ist ja Behindertensport.«

Vancouver während Olympia und Vancouver während Paralympia haben wenig gemein. Das Meer der Menschen ist verschwunden, die Straßen sind leer und leise, das Pressezentrum ist kein Kongresszentrum mehr, sondern ein mittelgroßes Zelt. Ein Kräfteverhältnis, das Beucher kennt: Er hat die Prämienverteilung der Stiftung Deutsche Sporthilfe kritisiert. 4500 Euro erhalten deutsche Sieger bei den Paralympics, Goldmedaillen bei Olympia wurden mit 15 000 Euro entlohnt. Ungerecht? Skandalös? Diskriminierend? Friedhelm Julius Beucher, 63, der zwischen 1990 und 2002 für die SPD im Bundestag saß, zuckt lediglich mit den Schultern: »Wir sind erst am Anfang. Wir müssen die Menschen konstant auf diese Ungleichheit aufmerksam machen. Dann wird auch der Widerstand wachsen, um Gleichheit zu schaffen.«

Es ist nicht die schlechteste Idee, einen ehemaligen Politiker mit der Lobbyarbeit für eine vernachlässigte Minderheit zu beauftragen. Beucher war von 1998 bis 2002 Vorsitzender des Bundestags-Sportausschusses, und kennt die politischen Entscheidungsträger. Er weiß, wie er eine Nische füllt.

Sein Verband hatte beim Forschungsinstitut Sport und Markt eine Studie in Auftrag gegeben. Das wenig überraschende Ergebnis schafft eine Nachricht mehr: 58 Prozent der Befragten wünschen laut der Studie eine Ausweitung der Berichterstattung, neunzig Prozent halten die Unterstützung durch Unternehmen für angebracht. Beucher hat vor den Spielen ein Schreiben an Journalisten versandt, mit der Bitte um mehr Zuwendung. Und sein Verband hat Stipendien für junge Journalisten ausgeschrieben, die nun ohne Kostendruck das übliche Ausmaß der Berichterstattung aus Kanada erweitern.

Beucher hat gelernt, für andere zu werben, um selbst beworben zu werden. Er erwähnt die Unternehmen, die seinen Athleten den Alltag erleichtern. Er erwähnt den Automobilhersteller, der seinem Verband zehn Wagen stellt. Und die Modefirma, die seit langem deutsche Olympioniken und nun erstmals auch die Paralympischen Sportler einkleidet. »Wir kommen in der Wirklichkeit an. Auch wenn das noch lange nicht reicht.« China, Russland oder die Ukraine pflegen ihren Staatssport. England bezieht den Etat aus einer Lotterie. Beucher muss einen Weg der kleinen Schritte gehen. Er wünscht sich die Verknüpfung von Behinderten- und Nichtbehindertenveranstaltungen, mehr Demonstrationswettbewerbe, einen öffentlichen Stellenpool für seine Athleten.

Es wäre nicht nur ein Zeichen für den Spitzensport, sagt er, sondern auch für die 6,7 Millionen Deutschen mit schweren Behinderungen sowie für 470 000 Mitglieder und 20 000 Trainer seines Verbandes. »Es geht uns um Öffentlichkeit für Breitensport und Rehabilitationsmaßnahmen«, sagt Beucher. Er weiß: Schon in zehn Tagen wird kaum mehr jemand danach fragen.


Zahlen & Fakten

  • In Vancouver werden bereits die zehnten Winterparalympics veranstaltet
  • Bis zum 21. März treten an zehn Tagen an den Wettkampfstätten in Vancouver und Whistler 507 Athleten aus 44 Ländern an. Die deutsche Mannschaft umfasst 20 Sportler.
  • 64 Wettbewerbe stehen auf dem Programm. Neu ist die Super-Kombination (Slalom und Abfahrt) im alpinen Skisport für Frauen und Männer.
  • Zum ersten Mal sind Athleten aus Argentinien, Bosnien-Herzegowina, Rumänien und Serbien dabei.
  • Mit 75 Jahren ältester Sportler ist der japanische Rollstuhl-Curler Takashi Hidai.
  • Gerade mal 15 Jahre alt ist der sehbehinderte schwedische Biathlet Zebastian Modin.
  • In den paralympischen Dörfern sind rund 1200 Sportler und Betreuer untergebracht.
  • Bereits eine Woche vor Beginn der Spiele waren 160 117 Eintrittskarten veräußert. Als Ziel gaben die Organisatoren 250 000 an.
  • Das Internationale Paralympische Komitee (IPC) will 425 Dopingtests durchführen. In Turin 2006, wo es keinen Dopingfall gab, waren es lediglich 242.
  • Das ZDF überträgt die Eröffnungsfeier in Vancouver live heute Nacht (ab 2.50 Uhr) und berichtet dann bis zum 17. März. Danach übernimmt die ARD. Beide Sender präsentieren die 64 Wettbewerbe in einer Live-Sendung und einer Zusammenfassung von 30 bis 70 Minuten Länge. Das ZDF wiederholt die besten Szenen vormittags ab 10.30 Uhr, die ARD ab 10 Uhr.
  • Wettkämpfe im Ski alpin, Skilanglauf, Biathlon, Sledge-Eishockey und Rollstuhl-Curling sind bei Eurosport live zu sehen – insgesamt 14 Stunden lang.


dpa/ND

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