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»Ausgerechnet Deutschland!«

Frankfurter Ausstellung zeichnet Einwanderung russischer Juden nach

  • Jens Bayer-Grimm, epd
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Titel der Ausstellung, die seit voriger Woche im Jüdischen Museum Frankfurt am Main zu sehen ist, bringt ein Paradox auf den Punkt: Warum sind 220 000 Juden nach dem Fall der Berliner Mauer aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gerade in das Land der NS-Täter ausgewandert? Einige Zitate von Einwanderern geben Auskunft: »Israel ist ständig im Kriegszustand. Ich wollte, dass meine Kinder in anhaltendem Frieden leben.« Oder: »In Israel könnte ich nicht lange bleiben. Diese Hitze. Deutschland liegt mir näher – klimatisch und überhaupt.«

»Wir wissen wenig über die Viertelmillion Juden, die in den vergangenen 20 Jahren nach Deutschland gekommen ist«, sagt Museumsdirektor Raphael Gross. Doch klar ist, dass sie das Judentum in Deutschland grundlegend verändert haben: »Die Juden zwischen 1945 und 1989 in Deutschland fühlten sich unter Vorbehalt hier anwesend«, so Gross. Mit den Einwanderern gebe es ein neues jüdisches Leben hierzulande.

Ausstellungskurator Dmitrij Belkin nennt es das zweite deutsche Judentum. Er ist selbst 1993 aus der Ukraine eingewandert: »Deutschland lag um die Ecke, und ich stellte es mir als Land der Dichter und Denker vor«, sagt er. Die Wirklichkeit habe er zwar anders erlebt, aber er blieb – wie die meisten jüdischen Einwanderer. Die Schau zeichnet ihren Weg nach.

Ein deutsche Amtsstube

Angefangen von Erinnerungen an die Sowjetunion unter Gorbatschow, ist neben originalen Koffern und Taschen die Aufenthaltserlaubnis des Schrifstellers Wladimir Kaminer von 1990 für die ehemalige DDR zu sehen. Künstlicher Tannenbaumschmuck und ein Schwippbogen zeigen die Bräuche, die die säkularisierten Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zur Feier des Jahreswechsels mitbrachten und damit die ansässigen Gemeinden irritierten.

Dort fand nach den Worten von Belkin nur rund ein Drittel der eingewanderten Juden eine Heimat. Das Problem war, dass in der Sowjetunion als Jude galt, wer einen jüdischen Vater hatte, die jüdischen Gemeinden in Deutschland nach orthodoxer Tradition aber nur diejenigen als Juden anerkannten, die eine jüdische Mutter hatten.

Davon abgesehen waren fast alle jüdischen Einwanderer säkular geprägt und religiöse Analphabeten. Dennoch stellen die Einwanderer laut Belkin inzwischen knapp 85 000 der ingesamt rund 110 000 Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland.

Eine Installation bildet eine deutsche Amtsstube nach: die Wände voll mit Aktenordnern, aus Lautsprechern werden Amtsschreiben vorgelesen. So wurde vielen Einwanderern ihre zumeist hohen Berufsqualifikationen wegen mangelnder Vergleichbarkeit nicht anerkannt. Eine andere Installation zeigt eine typische kleine Sozialwohnung, wie sie vielen Einwanderern zugewiesen wurde. Das Bücherregal ist gefüllt mit deutschen Klassikern auf Russisch.

Eine hochdekorierte sowjetische Uniformjacke macht darauf aufmerksam, dass sich die jüdische Erinnerungskultur in Deutschland mit den Einwanderern grundlegend verändert hat: Neben die Erinnerung an den Holocaust ist diejenige an den Sieg über die nationalsozialistische Diktatur getreten. Die Einwanderer haben als einen der wichtigsten Feiertage den sowjetischen »Tag des Sieges« am 9. Mai mitgebracht, den sie in fast allen jüdischen Gemeinden feiern.

Neue Regeln seit 2005

Die Epoche der jüdischen Einwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ist bereits Geschichte. Eine deutsche Gesetzesänderung aus dem Jahr 2005 bestimmt, dass keine jüdischen Kontingentflüchtlinge mehr ins Land kommen dürfen, nur noch jüdische Einwanderer, die nach orthodoxem Brauch eine jüdische Mutter nachweisen müssen – was die allermeisten nicht können.

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