Wer? Warum? Woher?

Utopie Musiktheater (verloren): die Eckwerke der MaerzMusik

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.
»Luci mie traditrici«– immer mehr Blutspritzer.
»Luci mie traditrici«– immer mehr Blutspritzer.

Die MaerzMusik 2010, »Festival für aktuelle Musik«, akzentuierte unter dem Leitgedanken »Utopie (verloren)« das Musiktheater. Tragende Säulen des Festivals »Luci mie traditrici« (»Meine trügerischen Augen«) von Salvatore Sciarrino in der Regie von Rebecca Horn zur Festivaleröffnung in der Volksbühne und »Wüstenbuch« von Beat Furrer in der Regie von Christoph Marthaler am Abschlusswochenende in der Schaubühne.

Was ist aus dieser Sparte, mit »Oper« hat sie kaum noch was am Hut, geworden, dass sie so lockte? Sie pluralisierte in den letzten Jahrzehnten enorm. Ein Gewinn. Handlungen, Fabeln, Geschichten fehlen im Prinzip. Stattdessen kommen multimediale, auf Räume und Objekte/Projektionen bezogenen Fokussierungen aller Art auf die Bühne. Arien, Ensembles, Chöre, traditionell verstanden, sind verschwunden. Der Mensch im Zentrum? Keineswegs. Das ist der größte Verlust. Einer der Defekte: Neue Musik reduziert, seit sie auf Inseln ihr Dasein fristet, ihr expressives Potential, ja gibt es ganz auf, und beschränkt hierdurch ihre menschliche Möglichkeit, die zu zeigen sie sich doch berufen fühlen müsste. Natürlich ist das nicht einschichtig zu sehen. Ausdruckslose Kunst kann manchmal mehr sagen als eine expressionistische »Salome«.

Salvatore Sciarrino und Beat Furrer sind unbestritten zwei Meister ihres Fachs. Furrer zugleich als Dirigent. Er leitete beide Aufführungen, sie kamen jeweils mehrmals zu Gehör, mit dem Klangforum Wien, einem der besten Ensembles in Europa, und ersten Sängerinnen und Sängern. In beiden Stücken sind Utopien, verstanden im Sinne Ernst Blochs als Vorschein auf ein Besseres, nicht wahrzunehmen. Eher die negative Utopie der Zertrümmerung von Lebensentwürfen. Beide Werke, kompositorisch hervorragend gearbeitet, sind hochexpressiv, im instrumentalen wie vokalen Bereich, und gehen bis an die Grenzen der Wahrnehmung. Die Schwächen ihrer Umsetzung sind gleichwohl eklatant.

»Luci mie traditrici« geht stofflich auf den Auftragsmord Gesualdos zurück. Bekanntlich ließ der große Madrigal-Komponist seine untreue Ehefrau umbringen. Fünf Personen singen in dieser modernen Renaissance-Oper. In den eigentümlichsten Färbungen und Intonationen. Die drei wichtigsten: ein Counter (Kai Wessel), ein Bariton (Otto Katzameier), ein Sopranstimme (Anna Radziejewska). Vorweg intoniert eine Sängerin statuarisch eine alte Monodie. Zwei Bedienstete schleichen umher, brechen gelegentlich in den Zwiegesang der drei Protagonisten ein. Verschwinden wieder. Eine Dreiecksgeschichte – bis ins Extrem gedehnt – enthüllt sich. Am Schluss lüftet der Ehemann den Schleier, indem er das Federbett mit dem blutenden Leichnam drunter vor seiner Ehefrau aufschlägt.

An dem Grauen nährt sich die Musik. Sie gerät heftig, zürnt dem Vorgang. Aber ein ewiger, immergleicher Weg führt bis zu dieser Stelle. So kitschig das Bühnenbild, so dürftig die Inszenierung der viel gerühmten Rebecca Horn. Zu erleben war konventionelles bürgerliches Theater mit italienischem Text. Deren Umsetzung verstand man nicht. Gleichwohl erschloss sich vieles über die hochartifiziellen, überraschend fremdartigen Duette des zerstrittenen Paars. Eine Jugendstil-Leinwand, bemalt mit Flora, erhält über die Dauer des Ehekonflikts mehr und mehr Blutspritzer. Ein Ehebett, paar Stühle, Topfpflanzen in der Ecke, Kerzen. Interieur wie im »Rosenkavalier«. Das biss die Komposition in den Hintern.

Ähnlich die Dramaturgie in Beat Furrers »Wüstenbuch«, das mannigfache Textelemente enthält, zumeist historische, auf Einsamkeit, Fremdheit, Verlorenheit, Tod gerichtete Vorstellungswelten. Christoph Marthaler, einst Regieheld an der Berliner Volksbühne, zerschlägt geradezu die Vielschichtigkeit der Musik von »Wüstenbuch«. Trivial schon der Spielort. Ein Hotel mit drei Schlafzimmern im ersten Stock, darunter so etwas wie ein Warteraum mit Büro, oder eine Tiefgarage. Darin wandeln vornehmlich ein brabbelnder Mann und fünf verquälte Damen in Alltagskleidung. Was die Personnage alles tun muss, was sie eigentlich nicht brauchte. Wie verschreckte, getriebene Soldaten laufen sie hintereinander her. Ein jeder fühlt sich verfolgt, genötigt. Eine Frau wird völlig unmotiviert vergewaltigt. Oder war es Liebe? Entfremdung unter der Schlagzeile von »Ortloser Ort, zeitlose Zeit« wuchert und wächst.

Das genügt aber nicht. Wer hat diese Menschen isoliert? Warum können sie nicht gut sein? Warum versagt ihnen die Sprache? Woher rühren die physischen, seelischen Störungen? Weshalb misslingt es, die Kälte abzuschaffen? Danach fragt das Theater nicht. Auch in »Wüstenbuch« ein Warten auf der Zeitachse. Erst zuletzt zeigt die Komposition ihre ganze gläserne Härte, ihre metallische Wut. Man muss die Furrer-Komposition unbedingt gegen die Marthaler-Simplizität verteidigen.

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