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Atomeisbrecher »Lenin« – Zukunft fraglich

In Murmansk hat der einstige Stolz der sowjetischen Nordmeerflotte seinen letzten Liegeplatz gefunden

  • Alexandre Sladkevich
  • Lesedauer: 4 Min.
Murmansk ist seit 2009 stolz: Die »Lenin«, der erste Atomeisbrecher der Welt, steht nach langen Dockarbeiten endlich zur Besichtigung bereit. 20 Jahre haben die Vorbereitungen in Anspruch genommen: Die Reaktoranlagen wurde ausgebaut, viele finanzielle Fragen waren zu lösen. 2010 aber stehen dem Eisbrecher weitere Veränderungen bevor.
Die »Lenin« im Hafen von Murmansk
Die »Lenin« im Hafen von Murmansk

Die »Lenin« war der erste Eisbrecher, der nicht mit Diesel, sondern mit Kernkraft betrieben wurde. 1959 in Dienst gestellt, repräsentierte die »Lenin« zur Zeit des atomaren Wettrüstens den Sieg der Sowjetunion auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Atomenergie. Sie machte den pausenlosen Verkehr von Frachtern und Forschungsschiffen im hohen Norden möglich und versprach, neue Horizonte für Polarforschung und Wirtschaft zu eröffnen. In 30 Jahren legte die »Lenin« 654 400 Seemeilen zurück, was 30 Reisen um den Äquator entspricht. Sie war fünf Jahren länger im Einsatz als geplant.

Hauptmechaniker Wladimir Kondratjew war schon am Bau des Eisbrechers beteiligt, bis zur Außerdienststellung des Schiffes 1989 war er an Bord – und ist es bis heute. Wir sitzen an jenem Platz, an dem er einst auch die Nuklearanlage bediente. »Damals waren ganz andere Zeiten«, schwärmt Kondratjew, »wir haben alle nach einem gemeinsamen Ziel gestrebt. Patriotismus, Enthusiasmus und Freundschaft haben uns vereint. Damals finanzierte der Staat alle Programme für Ozean- und Nordmeerforschung. Heute gibt es keine staatlichen Programme – außer der Suche nach Erdöl. Auch bei uns herrscht Finanznot. Wir bekommen zwar Unterstützung, aber die reicht nicht aus. Wir müssen das Interesse von Mäzenen und Sponsoren wecken. Aber die ›Lenin‹ darf dabei auch nicht entwürdigt werden.«

Wir schauen uns die Werkstatt und die ehemaligen Betriebsräume an. Frei bewegen dürfen sich Besucher auf dem Schiff nicht, denn mancher hat sich schon verlaufen und musste stundenlang gesucht werden. Über 500 Fabriken waren an Entwicklung und Bau beteiligt, erfahren wir. Jedes Detail verrät, dass die »Lenin« auch ein Vorzeigestück war. Für die Innenausstattung wurden edle Hölzer verwendet, darunter Karelische Birke und Kaukasischer Nussbaum. Es gibt eine Bibliothek mit Lesesaal, ein Kino mit Panoramaleinwand, einen Operations- und einen Röntgenraum, eine Küche und etliche Werkstätten – insgesamt über 1000 Räume. Auf dem Konzertklavier »Roter Oktober« musizierte einst die Komponistin Alexandra Pachmutowa, in der Messe speisten Fidel Castro und Juri Gagarin. Riesige Wandbilder, große Leuchter und eine prächtige Treppe – all dies ein Denkmal des Sozialismus.

Derzeit kommen monatlich 3000 Besucher auf das Schiff. Der Eintritt ist frei. Kondratjew stellt sich vor, dass im Ausstellungszentrum Lehrveranstaltungen stattfinden, Dokumentarfilme gezeigt werden, dass über Nuklear- und Strahlungssicherheit informiert wird. Hauptsache für ihn, »dass unser Stolz nicht geschändet wird«. Es gebe nämlich Pläne, das Schiff zu einem Vergnügungsort umzugestalten. Das dürfe auf keinen Fall geschehen. Ein schlimmes Beispiel liefere der Eisbrecher »Krassin«, eines der früher mächtigsten Schiffe seiner Klasse. Statt eines Museums beherbergt er heute Bar und Restaurant. »Die Leute gehen nicht wegen der Geschichte hin, sondern des Vergnügens wegen. Eine Schande, auf so einem Schiff ein Bordell einzurichten!«, schimpft der zweite Mann auf der »Lenin«.

Alexander Timofejew, Direktor des »Komplexes Atomeisbrecher Lenin«, ist anderer Meinung: Schließlich brauche man Geld, um die »Lenin« zu erhalten. Timofejew weist auf einen neuen riesigen Plasmafernseher und eine Musikanlage. »Das ist nur der Anfang. Man braucht wesentlich mehr, um die ›Lenin‹ auf europäischen Standard zu bringen, und da kommt man an der Unterhaltungsindustrie nicht vorbei.«

Der Direktor kennt ähnliche Anlagen in Westeuropa und in Moskau. »Das Raumfahrtmuseum in Moskau hat interaktive Trainingsgeräte, wie es sie im Ausbildungszentrum für Kosmonauten gibt. Fünf- bis sechstausend Besucher geben täglich viel Geld aus, um diese Geräte zu nutzen, sie stehen davor Schlange. Etwas Ähnliches brauchen wir auch. Neben dem Ausstellungszentrum könnten Souvenirladen, Hotel und Konferenzsaal eingerichtet werden. Aber dafür braucht man Kapital.« Timofejew überlegt sich jeden Satz, denn »noch ist nicht allen klar, was das Unterhaltungsgeschäft für die Zukunft der ›Lenin‹ bedeutet«.

Noch ist vieles ungewiss, aber um die Unterhaltskosten von über 600 000 Euro jährlich zu decken, gibt es wohl keine Wahl. Marina Kowtun vom Wirtschaftsministerium des Gebiets Murmansk sprach vor Journalisten schon mal von einem Hotel mit Zimmern der Luxus- und Businessklasse, von Restaurant, Fitnessstudio und Geschäftszentrum auf dem Eisbrecher. Schon werden auf dem Schiff Wände eingerissen und Räume erweitert. Arbeitslärm hallt über die »Lenin«, und es riecht nach Verbranntem.

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