Unrealistisch und ungerecht

Kopfpauschale: Grüne hinterfragen Finanzierung des Sozialausgleichs

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.
Auch die Grünen hegen ein tiefes Misstrauen gegen die von der Regierung geplante Kopfpauschale im Gesundheitswesen. Deshalb lud die Bundestagsfraktion am vergangenen Freitag Experten und Interessierte zu einer Tagung ein, auf der die Hintergründe der Koalitionsabsichten beleuchtet werden sollten.

Für Renate Künast, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, gehört die Gesundheitsversorgung zu den zentralen Gerechtigkeitsfragen. Sie kritisierte die »Show« der Regierungskoalition zur Pharmakostenbremse, die nicht dazu geeignet sei, die Probleme bei der Versorgung mit preiswerten und guten Medikamenten zu lösen. Für Juni erwartet Künast die Verkündung des Einstiegs in die Kopfpauschale in einem Bereich zwischen acht und 30 Euro pro Person und Monat. »Wie aber soll der soziale Ausgleich bei 130 Milliarden Euro Staatsschulden inklusive Bürgschaften aussehen?«, fragte Künast. Eine Finanzierung über Steuererhöhungen könne angesichts der Ungerechtigkeiten im Steuersystem nicht sozial sein. Wo die Reise hingehe, verrate das Konzept der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), die das Krankengeld streichen sowie die Zuzahlungen massiv anheben wollte.

Die Benachteiligung der Geringverdiener durch die Kopfpauschale soll nach Regierungsplänen durch einen sozialen Ausgleich erfolgen: Nach einer Modellrechnung würden hier Kosten von 35,5 Milliarden Euro pro Jahr entstehen. Für eine Gegenfinanzierung über die Einkommenssteuer müsste der Steuersatz generell um 20 Prozent angehoben werden. Schon daran, so Eckart Fiedler, Mediziner und Soziologe aus Köln, sei zu erkennen, wie unrealistisch der Ansatz sei. Zudem würden dann steuerzahlende Geringverdiener ihren eigenen Ausgleich mitfinanzieren.

Nach einer weiteren Berechnung würden 35,6 Millionen Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherungen zu Bittstellern. Die Frage sei auch, von wem der Sozialausgleich berechnet werden solle, ob er an die Krankenkassen oder direkt an die Versicherten, monatlich oder jährlich zu zahlen sei. Sollte dies von den Finanzämtern geregelt werden, bliebe offen, wie diese jene sechs Millionen Bürger betreuten, die auf Grund geringer Einkommen keine Steuern zahlen.

Aber nicht nur das mögliche bürokratische Prozedere einschließlich der Kosten dafür ist unklar. Markus M. Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin wies nach, dass das Volumen für den sozialen Ausgleich recht variabel sein könne. Bei einheitlicher Kopfpauschale für alle bislang gesetzlich Versicherten koste der Ausgleich pro Jahr 33 Milliarden Euro, würde hingegen der Beitrag für Kinder und Jugendliche auf 55 Euro reduziert, der Erwachsenenbeitrag in der Folge auf 175 Euro erhöht, wären »nur« 29 Milliarden Euro nötig. Ähnlich sehe es bei verschiedenen Bemessungsgrundlagen aus: Würden alle Einkommen – also auch alle bisher privat Versicherten – einbezogen, koste der Sozialausgleich nur noch 14 Milliarden Euro pro Jahr.

Grabka warnte auch davor, die Erfahrungen der Schweiz und der Niederlande mit Kopfpauschalen schönzureden. Die Ausgabenproblematik im Gesundheitssystem sei bei den Eidgenossen nicht gelöst. Zwischen 2006 und 2009 waren dort die Prämien um 20 Prozent erhöht worden. Zu anderen Zusatzzahlungen komme in der Schweiz eine Selbstbeteiligung von 300 Franken (etwa 200 Euro) für alle. Mindestens 21 Prozent der Haushalte brauchten eine Prämienverbilligung, in den Niederlanden 70 Prozent.

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