(Traum-)Reise durchs 20. Jahrhundert

»Baarìa« von Giuseppe Tornatore

  • Angelika Kettelhack
  • Lesedauer: 4 Min.

Baarìa« ist ein opulenter, schwärmerischer und ausufernder Film, in dem Giuseppe Tornatore, der Regisseur von »Cinema Paradiso« (1988), eine italienische Familiengeschichte erzählt. Über drei Generationen hinweg, mit immer neuen Episoden, zeigt Tornatore uns malerische Panorama-Einstellungen, die an diverse Brueghel-Bilder erinnern.

Aber wir sind nicht in Flandern, sondern weit im Süden Europas, auf Sizilien im Jahre 1930. Das Leben findet vorwiegend im Freien statt, entlang einer endlos schnurgeraden Hauptstraße. Die Bewohner, mehrheitlich einfache, aber außergewöhnlich schöne Menschen, sind in der damals noch überschaubaren Kleinstadt Baarìa, in der Nähe von Palermo, ständig unterwegs, falls sie nicht gerade auf den Olivenhainen unter unmenschlichen Bedingungen schuften.

In Baaría, dem heutigen Bagheria, das als Schwerpunkt der Mafia und deren unsauberen Geschäften gilt, wurde Giuseppe Tornatore 1957 geboren. Mit 32 Jahren, als er mit seinem Oscar-prämierten Film »Cinema Paradiso« zu internationalem Ruhm gelangte, hatte Tornatore auch schon mit Ennio Morricone, dem Komponisten, dessen Musik zum Markenzeichen der Italo-Western geworden war, zusammengearbeitet. Das Genre des »Spaghetti-Western« war optisch gekennzeichnet durch extreme Nah- bis Detailaufnahmen und schnelle Schnitte zwischen Gesichtern, Händen und Pistolen. In Tornatores Arbeit aber unterstützt Morricones Musik genau das Gegenteil: die schwelgerische und teils romantische Atmosphäre eines episch erzählten Films.

Wenn der Regisseur sich in der Figur seines Hauptdarstellers Peppino an sein eigenes Heranwachsen in Baarìa erinnert, nimmt er den Kinobesucher mit auf eine poetisch-genießerische Reise durch das 20. Jahrhundert, eine Reise, die allerdings die sozialen und politischen Umwälzungen der Geschichte nicht auslässt.

Der kleine Peppino wird von den Mafia-Bossen zum Zigarettenholen geschickt. Auf der langen Dorfstraße rennt er wie um sein Leben, denn nur wenn er zurück ist, bevor die Spucke des Bosses auf dem Boden getrocknet ist, soll er eine Belohnung bekommen. Später in der Schule singt er als einziger die Hymne auf den Duce nicht mit. Zur Strafe muss er hinter der Tafel in der Ecke stehen und schläft dort dann vor Erschöpfung ein.

Seinen eigensinnigen Charakter hat Peppino von seinem Vater Cicco geerbt. Der ist zwar arm, aber im Ort einer der wenigen, die lesen können. Der Neid der anderen macht ihm zu schaffen. Als er fälschlich beschuldigt wird, beißt er seinem Gegner wütend ins Ohr. Um seine Familie zu ernähren, gibt der Vater Peppino für einige Käselaibe an einen Schäfer.

Die frühe Entdeckung der weiten Bergwelt durch Peppino nimmt Tornatore als Anlass, die fantastischen und erhabenen Landschaften Siziliens im Laufe des Films immer wieder zu zeigen. Jahre später: Baarìa wird von Faschisten beherrscht, im Zweiten Weltkrieg muss Peppinos älterer Bruder gegen seinen Willen an die Front, und Peppino selbst wird verhaftet, weil er jemanden erschossen haben soll.

Kurz nach dem Krieg funktionieren die alten Seilschaften sofort wieder und die verarmten Landarbeiter werden erneut ausgebeutet. Daraufhin wird Peppino Kommunist und verliebt sich in die schöne Mannina, die für die Dorfkinder lauter weiße Kleider geschneidert hatte, aus Ballonseide, die die abziehenden Amerikaner ihr geschenkt hatten. Solche Einfälle zeichnen Giuseppe Tornatore aus: Er versteht es, die kleinsten Begebenheiten auf sinnliche und amüsante Weise in seine Erzählkunst einzuweben.

Um seine Armut zu vertuschen, legt Peppino besonderen Wert auf gute Kleidung, und da er für die Partei viel auf Reisen sein wird, sind seine Genossen ihm bei der Beschaffung behilflich. Doch die Eltern seiner Braut kann das nicht beeindrucken. Sie wollen keinen Kommunisten zum Schwiegersohn.

Wie immer bei Tornatore ist auch hier ein Film im Film ein großer Lehrmeister: Durch ihn bekommt Peppino die Idee, sich mit seiner Liebsten zu verbarrikadieren, um die Nachbarn auf sein Schicksal aufmerksam zu machen und so den Eltern die Heiratserlaubnis abzutrotzen. Ein solcher Zusammenhalt aller Verwandten und Nachbarn im Ort ist im heutigen Italien selten geworden. Das Italien der selbstbewussten Linken, die sich, egal von welcher Regierung, nicht vereinnahmen ließ, gibt es nicht mehr. Wie sonst könnte ein Lackaffe wie Berlusconi das schöne Land derartig zu- grunde richten?

Am Ende des fast dreistündigen Films wacht das Kind Peppino in seiner Strafecke wieder auf. War alles nur ein Traum oder historische Wirklichkeit? Das lässt Tornatore offen.

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