Das Vollkommene ist immer das Nichts

Traum von der Belle Epoque: John von Düffel und das »Hotel Angst«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Buchtitel ließ mich – Verzeihung, Herr von Düffel – an einen Roman von Hartmut Lange denken: »Die Bildungsreise« führte in jenes Triester Hotel, wo Johann Winckelmann 1768 ermordet wurde. »Man müsste das Hotel zu einer Touristenattraktion machen«, sinniert der Kunsterzieher Müller-Lengsfeldt, der auf Winckelmanns Spuren wandelt. Es gebe genügend Leute, die nicht nur das Schönheitsideal der Antike, sondern auch Winckelmanns letzte Stunde nacherleben wollen ...

»Hotel Angst« also: Aber in Bordighera an Italiens Riviera gibt es tatsächlich eine grandios verfallene Villa dieses Namens. Ob John von Düffel durch einen Artikel vor sechs Jahren in der »Zeit« darauf kam, dieses Buch zu schreiben? Oder ist es, wie er uns suggeriert, autobiografisch fundiert? Hat er wirklich den Tod seines Vaters zu beklagen? Wenn Peter von Düffel – Gymnasiallehrer und Übersetzer und nicht Statiker wie der Vater im Buch – noch lebt, würde sich doch solch ein Kunstgriff verbieten ...

Aber der Autor braucht die Trauer um den Vater, um seinen Weg nach Bordighera und sein Interesse für das »Hotel Angst« zu begründen. Ein einst so energiegeladener Mann, der zuletzt so hilflos war wie ein Kind: »Wie geschieht mir?«, fragte sein Blick, und der Sohn konnte nur halblaut sagen »Ja« beschwichtigend »Ja«. Nur zum Schein: »Hab keine Angst.«

Wer war dieser Mann? Im Buch ist es sein Traum, das »Hotel Angst« zu neuem Leben zu erwecken? Einen zweistelligen Millionenbetrag würde es kosten, schätzte sein Freund Klaus Fechner, ein gewiefter Immobilienmakler, und offerierte ein Projekt, das Gebäude in Eigentumswohnungen aufzuteilen, die schon im Entwurfsstadium bezahlt würden. Doch davon wollte der Vater nichts wissen. Das »Angst« sollte entweder als Grandhotel wiederauferstehen oder als Ruine seinen Mythos behalten.

Das Damals und das Jetzt schieben sich ineinander. Der Ich-Erzähler, der sich mit »du« anredet (was die Vermutung des Autobiographischen verstärkt, aber mit der Zeit etwas ermüdet) denkt an das Kind, das er war. Ein Kind, das durch das schmiedeeiserne Tor der Villa schlüpfte, zu den zerbrochenen Fenstern hinaufschaute und sich fragte, ob da nachts wohl Gespenster umgingen. »Hotel Angst« – das klang doch so gruslig, faszinierend. Aber der Name kam von jenem Mann, der 1887 mit dem Bau des imposanten Gebäudes begann: Adolf Angst. Im Spiel mit seinem Namen lockte er Gäste an: Mit der Angst, die gesucht und verleugnet wird, der Angst vor dem Tod als Kehrseite der Sehnsucht nach Ruhe und Stetigkeit.

Zauber der Belle Epoque: Nicht nur der Vater im Buch, auch der Autor ist davon fasziniert. Auch ich, obwohl ich doch weiß, dass es eine »Schöne Epoche« nur für Aristokratie und gehobenes Bürgertum war. Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs, ein Zelebrieren von Eleganz vor dem Krieg, nach dem nichts mehr so war wie vorher – vielleicht eine Metapher für das Leben? Vielleicht eine Warnung vor Übermut, Gewonnenes nicht zu verspielen im Wunsch nach mehr und mehr? So ist auch das »Hotel Angst« gestorben. Im Ersten Weltkrieg wurde es Lazarett, danach zwar wiedereröffnet, aber die alten aristokratischen Gäste blieben fort. »Hotel Angst« – Sinnbild für ein versunkenes Europa?

Wie gesagt, vielen mag es fremd sein, aber ich verstehe das Verlangen, sich zurückzuwenden, etwas vermeinlich Verlorenes zu suchen, damit es nicht gänzlich verloren sei. Einen Glanz vielleicht, der im Heutigen fehlt ... Schnell dabei, solcher Anwandlung zu widersprechen, habe ich mir erst später eingestanden: Es ist etwas tief Verborgenes, mir Eingewachsenes von Jugend an. Eine Rück-Sicht, die eher noch zugenommen hat. Der Blick auf die Kehrseite, der bei John von Düffel übrigens die ganze Zeit zu bemerken ist. Ich weiß genau: Fortschritt hat seinen Preis. Aber ich habe dabei ein zwiespältiges Gefühl. Nenn's sentimental, es ist eben so.

»Sehnsucht nach einer Bedeutung, die das Leben meistens erst dann bekommt, wenn es vorbei ist und Geschichte wird – falls es Geschichte wird«, so deutet Klaus Fechner in der Begegnung mit dem Erzähler den Charakter seines verstorbenen Freundes. Und dann spricht er einen Satz aus, der auch den Autor trifft: »Das Vollkommenste ist immer das Nichts, die reine unbefleckte Vorstellung.« Fechner, der Geldmacher – ein Romantiker auch er? Die Welt ist eben doch nicht nur ein materielles Gebilde; sie ist ebenso besiedelt von Bildern, die wir uns machen. Vorstellungen, die, so irreal sie sein mögen, ein Eigenleben haben und Macht darüber, wie sich die Dinge gestalten. Was wir sind und was wir glauben zu sein, was andere kaum in uns zu sehen vermögen, die Unstimmigkeit schmerzt, wirft uns um. Wieder aufstehend durchschauen wir die Illusion und wissen doch: Weitergehen ist nur möglich im Traum.

In diesem gar nicht mal kompliziert zu lesenden, doch unterschwellig vielschichtigen, feinsinnigen Text wird der Erzähler nicht loskommen von den Fragen nach Sein und Sinn, Imagination und Realität. Der Widerspruch zwischen Schönheit und Moral wird ihn bewegen, immer wieder wird der schnöde Alltag seine Rechte fordern. Es wird ihm zu Bewusstsein kommen, was für ein »kompromissloser Träumer« der Vater doch war und dass man wenig von einem Menschen weiß, so lange man seine Träume nicht kennt. Es sei, wie einem Schlafwandler nachzusteigen, schreibt John von Düffel. »Du siehst die Wege, die er einschlägt, du kannst vielleicht sogar erahnen, was in ihm vorgeht, anhand des Gemurmels, das er von sich gibt, doch du wirst niemals eins sein mit der Quelle, der Unruhe, dem Riß, der ihn umtreibt.«

»Tuberculous sufferers cannot be received«, hieß es im Prospekt für die vornehmen englischen Gäste. »Hotel Angst«: Tuberkulosekranke können nicht aufgenommen werden. Währenddessen Charles Garnier, jenem Architekten, der Bordighera vor Adolf Angst berühmt machte und mit ihm befreundet war, damals zwei Kinder an Tuberkulose starben. Wie wäre es, die beiden Männer in einem Roman gegenüberzustellen, der mit diesem Satz beginnen könnte »Tuberculous sufferers cannot be received«? John von Düffels Alter Ego bemüht sich darum, aber: »Es geht einfach nicht.« Der Stoff sperrt sich dieser Art der Gestaltung. Und ich ahne warum: Es wäre eine moralisierende Geschichte geworden. Auch dieses Scheitern floss mit ein in das Buch über Wirklichkeit und Traum.

Adolf Angst: ein Meister des Marketing, »ein Strippenzieher« der Träume: Es war ein gewinnträchtiges Unternehmen, seinen Gästen in prachtvollem Ambiente die Gelegenheit zur Selbstinszenierung zu geben, zum Kostümball, »der immer künstlicher wurde, immer maskenhafter, bis er einem Reigen von Gespenstern gleichkam, einer Gespenstergesellschaft, einem Totentanz«. Vor veränderten Kulissen geht diese Show ja weiter, wie wir wissen.

Der Vater dagegen einer, der sich der Manipulation verweigert, ein Eigensinniger, zeitlos, selbstvergessen: »Es ging ihm nicht um sich, um seine Phantasie, sondern um das Phantastische, das dem Vergangenen innewohnte, und seine größte Sehnsucht war, ein Teil davon zu sein.« Merkwürdigerweise verwirklichte sich sein Traum sogar, wenn auch anders als gedacht. »Zwar verfiel das Gebäude zusehends, doch das Phantastische an ihm wuchs und wucherte wie das Gestrüpp in den zerbrochenen Fenstern.« – Was das Vergangene war, davon machen wir uns Bilder für heute, nicht adäquat einstiger Wirklichkeit.

Sehnsucht nach der Belle Epoque? Natürlich nicht! Ich weiß genau, hätte ich damals gelebt, über die Risse im Boden hätte ich nicht hinwegtanzen können. Und ich hätte noch vieles andere gesehen, wovon ich heute keine Vorstellung habe. Großartige Aufschwünge, grundlegende Erneuerungen hätte ich herbeigewünscht, so wie es vielen ging. Ich hätte geglaubt, dass alles sich Guten wendet. Vorwärts, vorwärts! Weg mit dem Staub der Vergangenheit!

John von Düffel: »Hotel Angst«, Illustrationen von Isabel Kreitz (DuMont, 108 S., geb., 14,95 €).

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