Flucht zur Roten Armee

Wie Hans Lauter dem Himmelfahrtskommando entkam

  • Klaus Müller
  • Lesedauer: 7 Min.

Panzersoldaten der Roten Armee hatten in der ersten Aprilhälfte des Jahres 1945 eine unverhoffte Begegnung. Ihr Regiment war schon über die Oder gesetzt. Weiter sollte es nach Sachsen gehen. Während der Kampfpause tauchte plötzlich ein deutscher Zivilist bei ihnen auf. Zum Kommandeur gebracht, erklärte dieser: »Ja Kommunist, Drug Sowjetskowo Sojusa.« (Ich bin Kommunist, Freund der Sowjetunion.) Davon ließen sich die Panzermänner zunächst nicht beeindrucken. Sie verlangten seine Papiere. Er hatte keine. »Nu dawai, Dokumenti, Dokumenti!«, wiederholten sie mehrfach. Ein Deutscher ohne Dokumente, das gibt es doch nicht. Kein Soldbuch, obwohl er im wehrpflichtigen Alter ist. Wahrscheinlich ist er ein Faschist, der sämtliche Ausweise weggeworfen hat. Und woher kann er Russisch? Am besten gleich erschießen! Aber dann boten sie ihm doch erst einmal, im »Prawda«-Rand eingewickelt, ihren Machorka-Tabak an. Den lehnte der Deutsche jedoch ab: Er rauche nicht. Die Mienen der Soldaten verfinsterten sich. Derweil hatte der Kommandeur für die weitere Befragung eine Dolmetscherin holen lassen.

Zwei Jahre Moorsoldat

Der Zivilist war Hans Lauter aus Chemnitz, 30 Jahre, tatsächlich Kommunist. Hinter ihm lagen zweieinhalb Jahre antifaschistischer Widerstandskampf als Illegaler in seiner Heimatstadt und im Erzgebirge, in Leipzig und anderen Gegenden Sachsens. Hinter ihm lagen fast zehn Jahre Haft, zwei davon in den Straflagern des Emsland-Moors Waldrum, Esterwegen und Aschendorfer Moor.

Der Gestapo-Beamte Herbert Wilcke hatte ihn am frühen Morgen des 28. Mai 1935 in der Leipziger Reichsstraße 22 verhaftet. Lauter wohnte hier zeitweilig bei der Familie von Karl Weißwange. Wilcke kannte den kommunistischen Jugendfunktionär, der sich für den Studenten Heinz Bahr aus Berlin ausgab. Und er schlug ihn gleich zusammen. Der Gestapomann wusste auch, dass Hans im Dezember 1934 am 1. Reichskongress des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands in Moskau teilgenommen hatte. Die Geheimpolizisten kannten Teilnehmer und Beschlüsse des Kongresses. Aber von ihrem Gefangenen erhielten sie darüber keine Bestätigung. Sie erfuhren auch nicht, wer Hans in der Zeit zuvor heimlich über die Grenze in die Tschechoslowakei gebracht hatte.

Nichts sagte er über die Flugblatt-Aktionen, die er geleitet hatte. Nichts gab er preis über die Druckerei im böhmischen Chomutov und auch nichts über die an der Verbreitung der Flugblätter und des »Braunbuchs« gegen die Nazis Beteiligten. Selbst unter Schlägen nannte er keine Namen von antifaschistischen Sympathisanten im Grenzgebiet zur CSR, zu denen die Kommunisten Kontakt hatten, so in Olbernhau, Deutschneudorf und Deutscheinsiedel. Und gleich gar nichts verriet er über seine Mitkämpfer vom Jugendverband, von KPD und SPD. Dafür misshandelten ihn seine Vernehmer. Sie schlugen ihm die Zähne ein, bekamen aber trotzdem nichts aus ihm heraus.

Die Gestapoleute befahlen dem damals gut 20-Jährigen, Briefe nach Chomutov zu schreiben, um Illegale, die von der CSR aus ins Hitlerreich hinein wirkten, über die Grenze zu locken. Diese Masche war aber unter den Widerstandskämpfern rechtzeitig bekannt geworden. Für den Fall ihrer Verhaftung hatten sie sich folgende Adresse eingeprägt: Artur Krause, Komotau CSR, Rauchgasse 6. Wenn dort Briefe ankamen, wussten die Empfänger, der Genosse sitzt. Die Gestapo hat ihn beauftragt. »Um ganz sicher zu gehen, habe ich die Briefe in Sütterlin geschrieben, obwohl wir unsere illegale Post nach Böhmen sonst in lateinischer Schrift abfassten. An irgendeiner Stelle habe ich auch das Codewort ›wichtig‹ eingefügt«, erinnert sich Hans Lauter. »Ich bin heute noch stolz darauf, dass es mir so gelungen ist, die Gestapo hinters Licht zu führen.« Niemand war in die Falle gegangen.

Widerstand hinter Kerkermauern

Am Ende der monatelangen Verhöre und Foltern wurde der Jungkommunist im März 1936 mit zehn anderen Angeklagten vom II. Senat des faschistischen »Volksgerichtshofes« in Berlin wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu zehn Jahren Zuchthaus mit anschließender Polizeiaufsicht verurteilt. Polizeiaufsicht war der wegen der Olympischen Spiele für die internationale Öffentlichkeit verklausulierte Begriff für KZ. Auf die Frage des Landgerichtsdirektor Dr. Schaad nach der Motivation für sein Handeln, erklärte Hans Lauter: »Weil ich der Überzeugung bin, dass Hitler und die NSDAP einen Krieg vorbereiten und durch diesen Krieg das deutsche Volk und die deutsche Jugend in Not und Elend stürzen.«

Als die Nazis dann den Krieg vom Zaune brachen, befand sich der Chemnitzer schon länger als drei Jahre im Zuchthaus Waldheim. Auch hinter diesen dicken Mauern gab es Widerstand. »Wir haben zum Beispiel an für uns wichtigen Gedenktagen kurze Zeit die Arbeit ruhen lassen«, erinnert sich Hans. So am 28. Oktober, Gründungstag der Tschechoslowakei. In seiner Abteilung arbeiteten 36 Häftlinge. Davon waren 14 aus der CSR. »Für uns gehörte das zur Solidarität.« Auch der Jahrestag der russischen Oktoberrevolution, der 7. November, wurde auf diese Weise begangen. »Solidarität bedeutete für uns ›Politische‹, einander in den verschiedenen Situationen so gut als möglich beizustehen«, berichtet der ehemalige Waldheim-Häftling. »So brachten wir den Dresdner Antifaschisten Hans Dankner, der aus einer jüdischen Familie stammte, bei uns in der 17. Abteilung unter.« Dankner war von Beruf Gärtner. Die 17. Abteilung arbeitete für die Firma Carl Bauch, Roßwein, die Armaturen für U-Boote herstellte. Lauter und andere Häftlinge lehrten Dankner Gewinde strehlen. »Das ist eine hoch komplizierte Tätigkeit. Wir wollten, dass Dankner unabkömmlich und nicht als Jude in ein Vernichtungslager deportiert wurde. Leider ist er gegen Kriegsende doch noch in Auschwitz umgebracht worden.«

Auch in den Lagern des Emslandmoors, wohin Hans 1939 überstellt worden war, hielten die Nazigegner die Solidarität hoch. Und seinen ungebrochenen Kampfgeist bewies der Kommunist auch im Sommer 1940. Die sogenannten Langstrafigen kamen aus dem Moor wieder in ihre Gefängnisse zurück, Lauter also nach Waldheim. Dort hatte er einen Zusammenstoß mit dem Nazi-Gauleiter und Reichsstatthalter von Sachsen, Martin Mutschmann, bekannt auch als »König Mu«. Bei einer Besichtigung der 17. Abteilung wollte der braune Bonze von Hans wissen, woher, welche Strafe und ob er kommunistischer Jugendführer gewesen sei. Nach den ersten Antworten kam dann die Frage: »Sind Sie nun von Ihren Wahnsinnsideen geheilt?« Die Erwiderung lautete: »Herr Reichsstatthalter, ich kann gar nicht von Wahnsinnsideen geheilt werden, weil ich niemals an Wahnsinnsideen gelitten habe.«

Zu den wichtigsten Erfahrungen der Haft zählt Hans Lauter die vielen Gespräche mit Kommunisten und Sozialdemokraten, darunter Ernst Schneller und Fritz Selbmann (KPD) sowie Fritz Erler (SPD). Alles drehte sich um die Fragen: Wie konnte es zur Herrschaft der Faschisten in Deutschland kommen? Wie soll es nach Hitler weiter gehen? »Dabei war uns klar, dass das Verhängnis die Uneinigkeit der Arbeiterparteien war. Wären die sich einig gewesen, hätten sie die Nazidiktatur verhindern können«, so Lauter.

Als der Krieg mit aller Macht auf sein Ursprungsland zurückschlug, kam Hans in ein Himmelfahrtskommando. Vom Zuchthaus Waldheim aus wurde er Ende Februar 1945 einer Häftlingsgruppe zugeordnet, die nach dem großen Bombenangriff auf Dresden »Aufräumungsarbeiten« verrichten sollte. Im Klartext hieß das, vor allem Blindgänger zu entschärfen. Zuerst waren die »Aufräumer« in der Meißener Albrechtsburg, später im Gefängnis Radebeul/West untergebracht. Hans wollte nicht noch kurz vor Kriegsende von einer Bombe oder Mine zerrissen werden. Darum wagte er mit einem anderen Häftling in der zweiten Märzhälfte die Flucht. Es gelang. Ersten Unterschlupf fanden sie in Merzdorf, zwischen Elsterwerda und Bad Liebenwerda, bei einer Schwester Lauters. Die arbeitete auf einem Rittergut, wo man unter Dorfleuten, Zwangsarbeitern und Kriegsinvaliden nicht sofort auffiel. Hier trennten sich dann die Wege der beiden Flüchtlinge.

Kundschafter der Sowjetsoldaten

Hans bemühte sich, in vorsichtigen Gesprächen die Einheimischen zu überzeugen, der Roten Armee keinen Widerstand zu leisten sowie Brücken und Gebäude vor Zerstörung zu bewahren. Dann jedoch machte er sich auf den Weg nach Osten – der Roten Armee entgegen. Bei den vielen versprengten Wehrmachtseinheiten, Waffen-SS und Feldgendarmerie, die nach Westen strebten, war auch das ein großes Wagnis. Aber es gelang. Allerdings interessierten sich die Rotarmisten wenig für sein Vorleben. »Das waren Fronttruppen. Die meisten Fragen hatten sie nach Panzersperren und Brücken, insbesondere danach, ob diese durch Geschütze gedeckt seien«, erinnert sich Lauter. »Das konnte ich alles sachlich richtig beantworten.« Und dann hätten sie ihn losgeschickt, die Gegend zu erkunden. »Als die feststellten, dass alles stimmte, was ich ihnen berichtete, war ich ihr Mann. Jene, die mich ganz am Anfang erschießen wollten, boten mir nun bei sto gramm Wodka Brüderschaft an.«

Nach der Zerschlagung des Nazi-Regimes war Hans Lauter aktiv beim Wiederaufbau der zerstörten Heimat tätig. Vor allem aber setzte er sich das Ziel, junge Leute über den Faschismus aufzuklären. Noch heute vermittelt der emeritierte Professor, der nunmehr in Leipzig wohnt, Jugendlichen seine Erfahrungen. Für ihn gilt: »Antifaschismus ist der Humanismus unserer Zeit.«

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