Wo soll die Wut herkommen, bei so stillen Straßen?

  • Ekkehart Krippendorff
  • Lesedauer: 4 Min.

Es wurde viel gescholten, dieses Theatertreffen 2010 – zu unrecht, wenn man sich auf die Bilanz, die die Jury gemeinsam mit einem klugen, wenn auch kritischen Publikum am Ende zog: Es kann schließlich nicht besser sein, als das, was auf deutschen Bühnen in der letzten Spielzeit gezeigt wurde.

Um die dreihundert Stücke hatte man sich angesehen – wer, wenn nicht eine neunköpfige Profi-Gruppe kann das bewerkstelligen? Und einige der Befunde, die sich dabei ergaben, dürften es wohl wert sein, bedacht zu werden. Acht der zehn ausgewählten Stücke handeln von »der Krise«, der großen, der Wirtschaftskrise – und das nicht, weil es Auswahlkriterium für »bemerkenswert« gewesen sei, wie die Juroren übereinstimmend betonten, sondern weil es sich so ergeben hatte.

Offensichtlich ist das deutsche Theater sensibler in seiner Zeitgenossenschaft, als man es vermutet. Ein indirekter Beleg dafür ist das diesmalige Fehlen klassischer Stücke: Nur Horváths „Kasimir und Karoline« repräsentiert diese sonst prominente Kategorie, aber auch das ein Stück mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 als Hintergrund.

Das Besondere der aktuellen Krisen-Verarbeitung besteht darin, dass sie zwar einerseits die Opfer, die Verlierer, den »kleinen Mann« zum Protagonisten macht, aber andererseits keinen Zorn, keine Wut auf die Verhältnisse aufkommen lässt. Verwundert fragte sich die Jury, wie das zu erklären sei – und auch das Publikum hatte auf diese Frage keine Antwort. Unbefriedigend und doch ehrlich die Erklärung: »Wo soll das Theater diese Wut hernehmen, wenn sie auf der Straße, diesem unverzichtbaren Resonanzboden aktueller Dramatik, fehlt?«

Nur in Jelineks »Wirtschaftskomödie«, mit der das Theatertreffen ein fulminantes und bejubeltes Finale fand, hat die Regie (Nicolas Stemann) mit chorisch-appellativem Sprechen der schwarz-humorig bitterbösen und zynischen Texte der Sprachwelt der Banker das Publikum zu provozieren und ihm Mut zur Wut zu machen versucht.

Und noch andere vorläufige Zwischenbilanzen gab die Jury zu bedenken. Der Abwesenheit klassischer Stücke korrespondiert ein gewisser relativer Rückzug des Textes von der Bühne bei gleichzeitigem Vordringen der Musik in die Dramaturgie. In neun der zehn Stücke spielt sie eine wichtige Rolle, nicht nur bei dem stilprägenden Marthaler, dessen regelmäßige Präsenz bei den Theatertreffen vom Publikum kritisert wurde.

Weg von schwierigen, anspruchsvollen Texten und hin zum »sinnlichen Erzählen« scheint eine Tendenz zu sein, wozu eben auch die Musik ihren Beitrag leistet. Und auch noch dieses wurde bilanziert: Die Abwesenheit der großen Schauspieler, der Helden, sei es in den Stücken seien es die großen Schauspieler-Persönlichkeiten. Die Ensembles stehen im Mittelpunkt, die Vielzahl schauspielerischer Persönlichkeiten macht die Lebendigkeit der zeitgenössischen Stücke aus – freilich mit der durchaus als problematisch angesehenen weiteren Tendenz, dass die Schauspieler und Schauspielerinnen sich nunmehr zu wenig an den großen »klassischen« Rollen messen und mit ihnen wachsen können.

Die Stücke dieser Saison haben einen kurzen, gebrochenen, vielteiligen Atem – exemplarisch dafür, noch einmal, Jelineks Komödie, die sich einerseits bewusst auf Brechts Kapitalismus-Kritik in der »Heiligen Johanna der Schlachthöfe« beruft, aber dafür keine der Johanna oder auch Pierpont Mauler vergleichbaren Bühnenfiguren kreiert.

Ob diese Beobachtungen nur saisonbedingt oder tatsächliche Neuorientierungen der Theatermacher und Stückeschreiber sind – die Jury wollte sich da nicht festlegen und keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Ob sie tatsächlich die zehn »bemerkenswertesten« Inszenierungen ausgewählt hat – darüber wird es auch im nächsten Jahr keine Einmütigkeit geben können. Aber was man dieser Jury auf jeden Fall attestieren darf, ist eine echte Leidenschaft für das Theater, lebhaftes Engagement für einzelne Stücke, die spürbare Ernsthaftigkeit beim schwierigen Auswahlprozess »nach bestem Wissen und Gewissen« keine hohle Phrase.

Aber die Kriterien für «bemerkenswert« (nicht zu verwechseln mit »bestes«, worauf immer wieder Wert gelegt wurde) bedürfen einer immer neuen inhaltlichen Bestimmung. Noch scheint der Begriff eher zu meinen: originell, ungewöhnlich, auch provozierend. Wie wäre es, wenn man in den Kreis des Bemerkenswerten auch solche Inszenierungen aufnähme, die ihre Qualität haben in handwerklicher Gediegenheit, in sorgfältiger Detailarbeit (bei Stemanns Jelinek-Inszenierung lief das Ganze streckenweise völlig aus dem Ruder), in Sprachkultur und Bühnenbild? Man findet sie wohl am ehesten heute auf kleinen Bühnen wie Cottbus oder Meiningen mit einem loyalen Publikum, dem ihr Theater oft mehr bedeutet als den verwöhnten Großstädtern.

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