• Kultur
  • 8. ND-Lesergeschichten-Wettbewerb

Mein erstes Rendezvous

Dr. Gerhard Kurenz aus Bad Saarow (2. Platz)

  • Lesedauer: 4 Min.
Dr. Gerhard Kurenz
Dr. Gerhard Kurenz

Seit unserem ersten Schultag mochte ich Ruth Dierich, die kleine, lustige Blondine. Sie war das, was man einen Pfundskerl nennt. Ihre Ausstrahlung war wohltuend. Alle hatten sie gern. Ein Stück Schulweg hatten wir beide gemeinsam, und wenn es sich ergab, legten wir die Strecke zusammen zurück.

Es war im zeitigen Frühjahr 1943, wir hatten uns, was selten vorkam, wieder einmal zufällig getroffen und begaben uns zusammen auf den Heimweg. Sie war die Heiterkeit in Person und bestritt die Unterhaltung, so dass es gar nicht auffiel, wenn ich mich anderen Betrachtungen und Überlegungen hingab. Ich verfolgte die Bewegung ihrer schön geformten Lippen und das Spiel ihrer blauen Augen. Ich ließ den Reiz ihrer aufblühenden Weiblichkeit auf mich wirken. Ihr Körper war mit ihren vierzehn Jahren bereits gut gerundet und wohl proportioniert. Ich nahm es das erste Mal bewusst wahr und war tief beeindruckt.

Seitdem kam ich in Gedanken von Ruth Dierich nicht mehr los. Ich fühlte mich so zu ihr hingezogen, dass ich die ganze Zeit über sinnierte, wie ich ihr meine Gefühle erklären könnte. Sie direkt anzusprechen getraute ich mir nicht, also entschloss ich mich, ihr einen Brief zu schreiben, den ihr eine ihrer Klassenkameradinnen aushändigen sollte.

Der Brief war kurz und lautete etwa: »Liebe Ruth! Ich mag Dich sehr und muss immer an Dich denken. Ich würde Dich gern einmal treffen, wenn Du auch willst. Vielleicht kannst Du mir sagen, wann und wo? Bitte antworte mir!«

Eine schriftliche Antwort erhielt ich nicht, aber die mündliche Botschaft: »Ruth erwartet dich am Mittwochnachmittag. Du sollst um drei beim Uhlig Bäcker sein, wo du den Treffpunkt erfährst. Und du sollst eine Decke mitbringen.«

Mittwochnachmittag hatte ich frei. Mit dem Uhlig Bäcker war dessen Sohn Christian, ein Schüler aus der Nachbarklasse, gemeint. Über die Decke machte ich mir Gedanken. Wozu sollte ich sie mitbringen? Gewiss, es war die schönste Frühlingszeit und schon warm genug, auf einer Decke im Grünen zu sitzen. Sollte es darum gehen? Sehr glaubhaft erschien es mir nicht. Je länger ich nachdachte, desto kühner wurden meine Vermutungen und Vorstellungen. Ganz wohl fühlte ich mich nicht dabei, aber ein Rückzug war nicht mehr möglich.

Der Mittwochnachmittag kam heran, meine Mutter war nicht zu Hause, ich nahm meine weiche braune Schlafdecke unter den Arm und zog los. Nach ein paar hundert Metern begegnete mir mein Freund Manfred. »Wo willst du denn mit der Decke hin? Das Bad ist doch noch zu.«

»Ich ... bringe sie meiner Tante zurück.«

Die Bäckerei Uhlig lag im Unterdorf, fast am anderen Ende des Ortes. Bis dahin war ich ständig neugierigen Blicken ausgesetzt. Es kann aber auch sein, dass ich mir nur einbildete, die Aufmerksamkeit von Passanten wegen der Decke unter meinem Arm auf mich zu ziehen. Mir war, als ob mir jeder Blick sagen würde: Wir wissen genau, was du mit der Decke vorhast!

Jedenfalls fühlte ich mich auf dem ganzen Weg durchschaut und nicht recht wohl, nur die Aussicht, meine Angebetete bald sehen und sprechen zu können, half mir, das schlechte Gefühl immer wieder zu verdrängen. Dabei machte mich auch die Ungewissheit des Bevorstehenden ganz schön beklommen.

Da musste mir auch noch mein Klassenlehrer begegnen! Ich schlug mich auf die andere Straßenseite, ehe er mich entdecken konnte, und verharrte eine Weile an der Friedenseiche, ausgerechnet unter den Augen einer von Ruths Klassenkameradinnen, die in der Nähe einen Plausch mit einer Freundin hielt. Kein Zweifel, sie schaute zu mir herüber und grinste mich an, als wisse sie, warum ich die Decke mit mir herumtrug.

Noch ein solches Zusammentreffen, und ich hätte das blöde Ding irgendwo liegenlassen. Als ich endlich ohne weitere Zwischenfälle bei der Bäckerei Uhlig ankam und klingelte, öffnete Christian die Wohnungstür und tat verblüfft. »Was willst du denn mit der Decke hier?« Er will mich verschaukeln, dachte ich, und konterte: »Nun sag schon, wo wartet sie?«

Doch schon nach kurzem Wortwechsel wurde mir klar, dass mein Freund wirklich nicht eingeweiht war, und ich begriff, dass man ein böses Spiel mit mir getrieben hatte. Christian wollte sich ausschütten vor Lachen, doch er bezähmte sich, als er mich tief enttäuscht und fassungslos vor sich sah.

Er glaubte mich trösten zu müssen: »So sind die Weiber!«, sagte er. Dann holte er für mich aus der Backstube zwei Stück Kuchen, die ich zunächst zurück schob, aber mir nach einigem Zögern doch schmecken ließ, weil einem zu der Zeit nicht alle Tage so etwas Gutes vorgesetzt wurde, ohne Brotmarken dafür abgeben zu müssen.

Gekränkt und beschämt, um die Erfahrung reicher, dass Mädchen ganz schön gemein sein können, machte ich mich auf den Heimweg. Die Decke erinnerte mich noch lange bei jedem Anblick schmerzhaft an mein erstes Rendezvous.

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