Aufschreckend zeitgemäße Adaption

In Dessau zeigt Tomasz Kajdanski Gorkis »Nachtasyl« als Tanztheater

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.
Aufschreckend zeitgemäße Adaption

Verfilmt wurde Maxim Gorkis »Nachtasyl« bereits mehrfach: 1936 von Jean Renoir, 1957 von Akira Kurosawa. In der Sprache jenes Mediums ist das Drama um ein Dutzend Gestrandeter vorstellbar, der Tanz greift es erst 108 Jahre nach der Uraufführung am Künstlertheater Moskau auf, aus gutem Grund. Zum einen kann er die philosophischen Fragestellungen nach dem Sinn des Lebens nur schwer transportieren; zum anderen scheint die Situation der Barfüßler genannten Tagelöhner und Landstreicher leidvoll aktuell. Wieder lungern Obdachlose auf den Straßen, saufen sich den leeren Alltag schön, finden nicht die Kraft zum Neubeginn. Das zwingt fast zur Auseinandersetzung mit Gorkis zu Weltruhm gelangtem Stoff auch im Tanz.

Tomasz Kajdanski hat das in Dessau gewagt und seiner Sammlung sperriger Stücke nun ein weiteres hinzugefügt. Nach »Lulu« als Auftakt am neuen Wirkungsort folgt jetzt »Nachtasyl – Szenen aus der Tiefe«. Der Choreograf und sein Ausstatter Dorin Gal haben die Unterzeile wie auch den russischen Originaltitel »Na dnje«, »Auf dem Grunde«, wörtlich genommen und das Geschehen aus dem Keller in ein marodes Schwimmbassin verlegt. Wie ein schmuddlig graues Verließ unter niedrigem Plafond wirkt, wo Gestalten als Silhouetten sitzen, liegen, stehen; an die beiden Einstiege ins Becken, die Ausstieg aus jener Tristesse sein könnten, werden sie selbst im Sprung nie heranreichen. Schrill ist der Ton, als die Kurtine hochfährt, den nebligen Blick aufklart, zugleich das desparate Inferno in Gang setzt.

Zwar hat Kajdanski seinen Figuren Namen aus Gorkis Vorlage zugeordnet, greift auch deren persönliche Konflikte wie ihre spannungsgeladenen Beziehungen auf. Die Bewegungssprache und Gals punkhaft abgerissene Kostüme weisen sie eindeutig als Menschen unserer Tage aus. In dieser zeitgemäßen Adaption liegt einer der Vorzüge jener Inszenierung: Auch ohne Gorkis Stück zu kennen, erschließt sich die Thematik.

Unterstützt wird das Team von den gewählten Musiken: Detlev Glanerts »Theatrum Bestiarum – Lieder und Tänze für großes Orchester« im »Rasend vor Ohnmacht« genannten ersten Teil, Arnold Schönbergs »Verklärte Nacht« für »Hoffnung« als Mittelteil, Glanerts »Mahler/Skizze« für »Endzeit« als Finale. Dass Glanerts enorm vielschichtige, bisweilen aufschreckende Klangbilder zu Schönbergs trauervoll sinfonischem Gestus verblüffend genau passen und von der Anhaltischen Philharmonie unter Wolfgang Kluge konzertreif musiziert werden, gibt den 75 pausenlosen Minuten Tanz Reiz und akustischen Widerpart gleichermaßen.

Gegen Wände rasen die Insassen jener Tiefenwelt an, richten die Verzweiflung mehr noch gegeneinander, während eine Welt kalter Betonklötze als Langsam-Film hinter ihnen vorüberzieht. In aufbäumenden Soli und Ensembles brechen sich Hilflosigkeit und Aggression Bahn, Matratzen werden zu Schlaggegenständen, Stühle zu Plätzen der Lethargie. Mit viel Aktion lässt Kajdanski die Charaktere zusammenprallen, setzt klassischen Tanz ebenso ein wie Kampfsport, umschreibt so Gorkis Personalkonstellationen: Bassinbesitzer Kostylew und Wassilissa, Pepel und Natascha, den trunksüchtigen Schauspieler in seinem Selbsthass. Erst als Luka wie eine Vision der Hoffnung ins Bassin steigt, beginnen sich die aufgeregten Attacken unter gewitterdräuendem Plafond zu entwirren. Was wir wollten, war nicht das, flüstern Stimmen vom Band: Wovon sollen wir leben, lasst mich sterben.

Die Nacht verklärt sich jedoch allmählich in erfüllt intakte Beziehungen vor idyllischen Landschaften, denn Gutes zu tun gilt es, sich selbst zu achten, wie Luka lehrt. Kaum hat sich der rätselvolle Fremde entfernt, wird aus dem tänzerischen Dauerschwelgen ein gewalttätiger Flächenbrand, den Ernüchterung und Unfähigkeit zur Tat entzünden. Der Traum weicht endgültig der Realität: Mit Wassilissas Sticknadel ersticht Pepel Kostylew, an Lukas Leiter erhängt sich der Schauspieler, kübelweise Erde begräbt die tote Anna. Über das ganze Totenhaus breiten zwei ein schwarzes Tuch, das noch lange wie eine düstere Wolke schwebt, wenn die Musik mit einzelnen Schluchzern verebbt.

Einen Ausweg aus dem Dilemma weiß auch Kajdanski nicht, bietet zumindest aber mit seinen fulminant auftrumpfenden elf Tänzern ein unter die Haut gehendes Stück Abrechnung mit beschämenden sozialen Zuständen. Das macht sein »Nachtasyl« zu einer eminent wichtigen, weil zeitnahen Produktion, der man die Sympathien des Publikums wünscht. Dass sie keinen Trost mitgibt, ist nicht seine Schuld; dass sie pralles Tanztheater liefert, aber sein Verdienst.

Weitere Vorstellungen: 5., 11., 17.6., 4.7.

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