Eine Straße, zwei Welten

Mit dem Mauerfall sollten Ost- und Westberlin zusammenwachsen – in der Ackerstraße hat das noch nicht funktioniert

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 5 Min.
Die einstige Trennung der heutigen Bundeshauptstadt ist in der Ackerstraße in Berlin-Mitte noch immer sichtbar. In den vergangenen Jahren haben sich in dieser Straße, die fast 30 Jahre von der Mauer geteilt wurde, wieder zwei sehr unterschiedliche Kieze entwickelt. Während der Westen von Armut und sozialem Wohnungsbau geprägt ist, haben sich im Osten Künstler und Szenelokale angesiedelt.

Ein Teil der ehemaligen Grenzmauer, mit Moos bewachsen und mit bunten Graffitis besprüht, wurde hier stehen gelassen. Die ehemalige Grenzmauer ist ein Teil der Gedenkstätte Berliner Mauer. Sie wird vor allem von Touristen und Schulklassen besucht.

Ein Lehrer, von seinen Schülern umringt, steht vor einer Gedenkstele. Er wirft die Frage in die Runde: »Wie viele Todesopfer hat es an der Mauer gegeben?« Die Schüler überlegen. Einer bricht das Schweigen: »136.« »Genau«, lobt der Lehrer, »136 nachgewiesene Todesopfer.« Wie viele wirklich umkamen, ist nicht genau belegt. Jedenfalls werden den Schülern von ihrem Gedenkstättenbesuch vor allem die dokumentierten Maueropfer in Erinnerung bleiben.

Sie sind mit Foto und Lebenslauf aufgelistet. Auf Computerbildschirmen kann man sogar die Details so manch missglückter Fluchtgeschichte nachlesen. So auch über Günter Litfin, der kurz nach dem Mauerbau im August 1961 versuchte, über den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal in den Westteil der Stadt zu schwimmen. Doch der damals 24-Jährige wurde durch einen Kopfschuss von einem Polizisten getötet. Er war der erste Mauertote.

Inzwischen kann jeder unbehelligt zwischen ehemaligem Ost- und Westteil flanieren. Seit nunmehr 20 Jahren gibt es keine Grenzmauer mehr in Berlin. Damals berichtete das »Neue Deutschland« auch über den offiziellen Mauerabriss in der Bernauer Straße/Ecke Ackerstraße: Dieser begann am 14. Juni 1990 um 10 Uhr. Zwei unterschiedliche deutsche Lebenswelten sollten damals in Berlin vereint werden.

Doch die Kontraste zwischen Ost- und Westteil der Ackerstraße könnten heute kaum größer sein. Während sich der Osten zum Szenekiez entwickelte, scheint im Westen die Zeit still zu stehen. Geprägt von mehrgeschossigen Bauten, die in den 70er Jahren im ehemaligen Arbeiterbezirk Wedding als sozialer Wohnungsbau hochgezogen wurden, fehlt der West-Ackerstraße jegliches Flair. Auch studentisches, obwohl die Technische Universität Berlin hier einen Standort hat. »Der Stadtteil ist noch immer ein Viertel der armen Leute«, bestätigt die in Wedding geborene Mittsechzigerin Elke Kielberg. In ihrer Nachbarschaft habe sich in den vergangenen Jahren kaum etwas verändert.

Einer der wenigen Treffpunkte ist eine Eckkneipe. Hier sitzt zur Mittagszeit eine dreiköpfige Gruppe von Männern um die 50 in schummrigem Licht vor ihren Biergläsern. An den Wänden stehen Spielautomaten. Im Fenster hängt eine Fahne von Hertha BSC. Aus der alten Musikanlage dröhnen Schlager.

Yuppies in der Spandauer Vorstadt

Im Ostteil der Ackerstraße, die hier zur Spandauer Vorstadt gehört, prägen dagegen vor allem Yuppies das Straßenbild. Nicht jeder kann sich in unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum Wohn- oder Gewerberäume leisten. Denn die Mieten sind hier in den vergangenen Jahren explodiert. Wer eine Wohnung sucht, muss bis zu 13 Euro pro Quadratmeter aufbringen. In den stattlichen sanierten Altbauten haben sich Wein- und Bioläden sowie betuchte Grafikdesigner und Anwaltskanzleien niedergelassen. Vor dem hippen Café Ribo in der Nähe des Rosenthaler Platzes sitzen junge Leute, essen Salat und trinken Saft oder Latte macchiatto. Direkt gegenüber befindet sich das Büro des Plattenlabels »Asphalt-Tango-Records«.

»Wir sind 2005 hier eingezogen«, erzählt Claudia Nelke. Die junge kurzhaarige Frau trägt ein Jackett und sitzt in einem Ledersessel hinter einem gläsernen Schreibtisch. Sie arbeitet schon seit mehreren Jahren bei dem Plattenlabel, das vor allem auf moderne osteuropäische und Balkan-Musik setzt. »Vor fünf Jahren war diese Gegend schon ein richtig schickes Viertel. Das war wohl nicht immer so.« Sie habe gehört, dass der Kiez früher, nicht erst seit DDR-Zeiten, ein Schmuddelviertel war. »Wohl ein richtig raues Pflaster!«

Claudia Nelke selbst hat diese Zeit nicht miterlebt. Sie ist in den 90er Jahren aus dem Ruhrgebiet nach Berlin gezogen. Wegen der Musikszene, und weil Berlin »nach dem Mauerfall zur spannendsten Stadt in Europa geworden ist«.

Keine Zukunft für den Schokoladen?

Auch an die Ostberliner Hausbesetzungen in der Nachwendezeit durch die linksalternative Szene erinnert in der Ackerstraße allenfalls noch der Schokoladen. Schon von außen fällt das alternative Kulturzentrum im neuen Szenekiez aus dem Rahmen. Die Fassade ist im Gegensatz zu den meisten anderen Häusern in der Nachbarschaft nicht saniert. Auch drinnen bietet der Schokoladen eine Zeitreise zurück in die 1990er Jahre.

Den Eintritt zu Lesungen, Theaterstücken, Punk- und Reggae-Partys bestimmen die Würfelaugen beim Glücksspiel am Eingang. Man kennt sich. Viele Partygäste begrüßen sich mit Vornamen. Die Wände sind rot gestrichen. Die Getränke günstig. Die Luft ist von Zigarettendunst durchsetzt

Im Sommer 1990 wurde die ehemalige Schokoladenfabrik von Studenten besetzt. Ein Wohnprojekt und ein Kultur Café im Erdgeschoss entstanden. Im Nachbarhaus ist vor drei Jahren der polnische Künstlerzusammenschluss »Club der Polnischen Versager« eingezogen. Dieser bereichert das Kulturangebot unter anderem mit Jazz- und Satireabenden. Im Innenhof befindet sich heute das »Theater im Schokohof«.

»In den 90er Jahren gab es neben uns nur drei oder vier Studentenbars in der Straße«, erzählt Anja Gerlich vom Schokoladen. Diese existieren inzwischen nicht mehr. Und ob der Schokoladen nach diesem Sommer weitermachen kann, ist auch fraglich. Denn der Eigentümer hat die Verträge mit dem Kulturzentrum nicht verlängert. Er will das Haus sanieren und dann mehr Miete verlangen. Für die bisherigen Mieter würde dann kein Platz mehr bleiben.

Ein typischer Prozess, im Soziologen-Jargon »Gentrifizierung« genannt, wie er nicht nur in den Berliner Innenstadtbezirken zu erkennen ist. Die angestammte Bevölkerung und gewachsene Stadtteilstrukturen werden durch Sanierung, steigende Mieten und damit einhergehende massive Aufwertungen verdrängt. Um sein Überleben zu sichern, wollte der Schokoladen das Haus selbst kaufen. Der Besitzer hat das Angebot abgelehnt. Trotzdem hoffen Gerlich und ihre Mitstreiter weiter, den Schokoladen kaufen zu können. Derzeit verhandeln Vertreter des Schokoladens mit dem Vermieter und lokalen Politikern.

Das Mietverhältnis endet bereits Ende Juli dieses Jahres. Deswegen ist das Kulturprojekt wohl schon im August von der Räumung bedroht. Trotz dieser Probleme gibt sich der Schokoladen optimistisch: Vom 16. bis 18. Juli soll mit einem traditionellen Hoffest sein 20-jähriges Bestehen gefeiert werden.

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