Meyer und der Generalplan

Kapitel I aus der NS-Vergangenheit einer Alma mater

  • Roland Köhler
  • Lesedauer: 6 Min.
Trotz Anfang des Jahres erklärten Willens, die NS-Vergangenheit der eigenen Institution schonungslos aufzudecken, tut sich der Akademische Senat der Humboldt-Universität offenbar noch immer schwer. Stein des Anstoßes studentischer Proteste sind die Schwierigkeiten im Umgang mit der Wahrheit über den Generalplan Ost. Eine Erinnerung, auch für Landsmannschaften, die sich zu Pfingsten wieder treffen.

Gleich nach der Niederwerfung Polens sah das Naziregime die Zeit für gekommen, als nächsten Schritt zur Eroberung der Weltherrschaft das deutsch-germanische Kolonialreich Ost zu errichten. Die Leitfunktion dabei war dem »Reichsführer SS« und Chef der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, zugedacht. Am 7. Oktober 1939 ernannte ihn Hitler zum »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums«. Zentraler Sitz seines Kommissariat war in Berlin-Halensee, Kurfürstendamm 142/143. An die Spitze der Planungsabteilung seiner Dienststelle setzte Himmler den ehrgeizigen Prof. Dr. Konrad Meyer, der nach dem Sieg der Nazis als Politikprofessor an die Landwirtschaftliche Fakultät der Berliner Universität berufen worden war.

Meyer stammte aus völkischem Elternhaus, hatte 1930 in Göttingen als Pflanzenzüchter habilitiert und sich seitdem der NSDAP für Führungsaufgaben zur Verfügung gestellt. Er hatte bereits In der SS Karriere gemacht, als er mit Elan sein neues Amt als Planungschef in Himmlers Reichskommissariat antrat. Die von ihm geleitete Planungsabteilung erhielt ihren Sitz in Berlin-Dahlem, in der Podbielsky-Allee 25/27, wo er bislang schon als Obmann des landwirtschaftlichen »Forschungsdienstes«, der NS-Organisation zur zentralen Leitung der landwirtschaftlichen Forschung, residierte. Sein stattliches Institut für Agrarwesen und Agrarpolitik der Berliner Universität in Dahlem war zwei Minuten Fußweges davon entfernt. Die Personalunion, in der er mit seinen Mitarbeitern bisher die Aufgaben auf der Universitäts- und der »Reichsebene« kombinierte, erstreckte sich in praxi nun auch noch auf die »Dienstleistungen« für Himmler.
»Dass für die Bearbeitung von Spezialfragen«, schrieb er anfang der 70er Jahre in seinen unveröffentlichten Memoiren, »auch mein Institut und der Forschungsdienst herangezogen wurden, ergab sich einfach aus der engen personellen Verzahnung und dem Bestreben, vorhandene Einrichtungen wirkungsvoll und rationell einzusetzen.« Meyer wirkte da längst nicht mehr als landwirtschaftlicher Forscher. Er war zum einflussreichen Wissenschaftsorganisator emporgestiegen und betätigte sich in der Öffentlichkeit als Ideologe der NS-Agrarpolitik. Sein spezieller Forschungsehrgeiz indes galt der geopolitischen Großraumgestaltung, zu der die Nazis die landwirtschaftswissenschaftliche Siedlungstheorie inzwischen entstellt hatten. Das Rassedenken gab der Ostkolonisation tödliche Dimension.
Im April/Mai des Jahres 1940, kurz vor Beginn des »Westfeldzuges«, legte die von Meyer geleitete Planungshauptabteilung »Planungsgrundlagen für den Aufbau der Ostgebiete« vor. Die Juden werden hierin bereits als »eliminiert« behandelt: »Es wird im folgenden vorausgesetzt, dass die gesamte jüdische Bevölkerung dieses Gebietes von rund 560 000 evakuiert ist bzw. noch im Laufe dieses Winters das Gebiet verlässt.« Das genozidale Prinzip der »Lösung der Rassenfrage« wird aber auch auf die slawische Bevölkerung übertragen: »Die Wiederherstellung des Status von 1914 würde bedeuten, dass man zunächst die Zahl der in diesem Gebiet lebenden 1,1 Millionen Deutschen um 3,4 Millionen auf 4,5 Millionen vermehrt und Zug um Zug 3,4 Millionen Polen abschiebt.«
Ganz im Sinne der NS-Ideologie wird in den »Planungsgrundlagen« die Quelle der ersehnten rassischen deutschen Dominanz benannt. »Das entscheidende und wichtigste Element bei der Neugestaltung der Ostgebiete stellt das Bauerntum dar. Von seiner Arbeit am Boden hängt die Festigung des deutschen Volkstums und die endgültige Gewinnung des durch das Schwert gewonnenen Bodens entscheidend ab.« Es war von vornherein klar, dass es sich um ein Landraubprogramm handelte. »Die entscheidende Aufgabe für die Festigung deutschen Volkstums ist die Schaffung einer gesunden Boden- und Besitzordnung. Diese muss in erster Linie die blutsmäßige Sicherung des Bauerntums und des Volksbestandes gewährleisten, aber auch gleichzeitig wirtschaftlichen Erfordernissen Rechnung tragen.« Es war das Bild eines deutschen großbäuerlichen Agrarmodells ständisch-mittelalterlicher Prägung, das entrollt wurde. Es sollte mit militärischen Mitteln errichtet und durch das paramilitärische »volks- und wehrpolitische Führertum« am Leben gehalten werden. Die »größeren Besitzformen«, hieß es, »entsprechen als künftige Wehrbauernhöfe im gewissen Sinne den Schulzenhöfen und Rittergütern der mittelalterlichen ostdeutschen Kolonisation«. Die Kolonisierung solle nach landsmannschaftlichen Gesichtspunkten erfolgen.
Zwei Tage nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion, am 24. Juni 1941, hatte Himmler eine Unterredung mit Meyer, in der er ihm »Richtlinien und Hinweise« für eine zu erarbeitende Vorlage gab. Drei Wochen später, am 15. Juli 1941, legte Meyer dann Himmler sein Grunddokument der weiteren Ostkolonisation vor. Diese erstmals »Generalplan Ost« benannte Version wurde bislang nicht aufgefunden. Es gibt nur sichere Hinweise auf ihre Existenz und darauf, dass die nächste, überlieferte, nur wenige Monate ältere Fassung auf ihr aufbaut.
Alle die Szenarien entstanden nicht in der Abgeschiedenheit des Himmlerschen »Reichskommissariats für die Festigung deutschen Volkstums«, sondern wurden auch anderen an der Ostkolonisation beteiligten Dienststellen bekanntgegeben. Aus der überlieferten Korrespondenz um diese Frage geht aber auch hervor, dass Himmler die Planungshoheit seiner Dienststelle in Fragen der Ostkolonisation sowohl gegenüber dem Darré-Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft als auch gegenüber dem Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenberg, durchgesetzt und in der Hand von Meyer konzentriert hatte. Die von diesem schließlich vorgelegte offizielle Fassung des Generalplanes Ost vom 28. Mai 1942 war in seinem Institut für Agrarwesen und Agrarpolitik der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (!) zusammen mit einigen Mitarbeitern seiner Planungsabteilung im Reichskommissariat erarbeitete worden. Aber auch Professoren anderer Universitäten, wie Prof. Dr. Boesler, Jena, und Prof. Dr. Waldhäusl, Leipzig, hatten an dieser Version des verbrecherischen Planes mitgewirkt, wie Meyer explizit erwähnte.
Als alleinige Wirtschaftsmacht mit Kommandogewalt sollte sich die SS etablieren: »Die Verfügungsgewalt über Grund und Boden liegt beim Reich, vertreten durch den Reichsführer SS, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums.« Eine besondere Rolle im Eindeutschungs- und Germanisierungsprozess war dabei den so genannten Siedlungsmarken zugedacht. Ihre Aufgabe und Funktion im Kolonialsystem wird wie folgt in Meyers Generalplan Ost definiert: »In vorderster Front des deutschen Volkstums gegenüber dem Russen- und Asiatentum sind aber bestimmte Gebiete vorgezeichnet, die eine besondere Reichsaufgabe haben. In diesen Gebieten ist zur lebenswichtigen Sicherung des Reichs nicht nur der Einsatz von Machtmitteln und Organisationen, sondern gerade von deutschen Menschen als bodenständiger Bevölkerung notwendig. Hier soll in vollkommen fremder Umwelt deutsches Volkstum mit dem Boden verwurzelt und in seinem biologischen Bestand für die Dauer gesichert werden. Diese Gebiete sind zunächst der Gotengau (Krim und Cherson, R.K.) und das Ingermanland (das Gebiet um Nowgorod, Pskow und Leningrad, R.K.), Ferner wird ein weiteres Gebiet, das Memel-Narewgebiet (der Bezirk Bialystok und Westlitauen R.K.) in Vorschlag gebracht.«
Außer diesen Siedlungmarken sollten weitere 36 Siedlungsstützpunkte längs der Haupteisenbahn- und Autobahnlinien errichtet werden. Die Marken und Stützpunkte sollten in einem Zeitraum von 25 bis 30 Jahren vollkommen eingedeutscht sein. Meyer hat sogar genau ausgerechnet, dass im Kolonialgebiet dafür 3345805 deutsche »Siedler« gebraucht würden, die aus dem »Altreich«, aber auch aus »Lagerumsiedlern« und »Streudeutschtum« (so aus dem Banat und Siebenbürgen), »Volksdeutschtum« aus Übersee, »germanischen Siedlern« aus Nord- und Westeuropa, Russlanddeutschen und aus den »Baltenvölkern« rekrutiert werden könnten.
In Nürnberg behaupteten die Angeklagten, darunter Meyer, alle diese Ausarbeitungen seien für die Nachkriegszeit bestimmt gewesen und nur »Papier geblieben«. Das stimmt nicht, mit ihrer Umsetzung war gleich nach dem Überfall auf Polen und die UdSSR begonnen worden. Der Generalplan Ost war keine unverbindliche Vision - er war mit dem Kriegsverlauf synchronisiert, ein Programm, um dessen Verwirklichung die Inspiratoren um jeden Preis zu kämpfen gewillt waren. Allein der Widerstand der Alliierten und der Völker machte ihn zunichte.


Unser Autor, Professor für Geschichte, forscht vor allem zu Hochschulgeschichte.
Lesen Sie am nächsten Wochenende »Kapitel II der NS-Vergangenheit einer Alma mater - Der Fall Bobek« von Prof. Dr. Siegfried Grundmann.
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