Bundesarbeitsgericht: Wie weiter in der Rechtsprechung nach dem Fall »Emmely«?

Arbeitsrecht

  • Prof. Dr. JOACHIM MICHAS
  • Lesedauer: 4 Min.

Um es von vornherein auf einen Nenner zu bringen: Es kommt weiterhin grundsätzlich auf die konkreten Umstände des Einzelfalles an, die die Arbeitsgerichte zu werten und abzuwägen haben, welche Sanktion des Arbeitgebers angemessen ist.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) ist mit seiner Entscheidung am 10.6.2010 im Hinblick auf die Gewichtung der konkreten Umstände und der Interessenabwägung bei Bagatelldelikten von seiner bisherigen Praxis abgerückt.

Bisher galt das »Bienenstichurteil«

Bisher war das berüchtigte »Bienenstichurteil« aus dem Jahre 1984 maßgebend, das die fristlose Entlassung als Folge der Entwendung incl. Verzehr selbst sehr geringwertiger Produkte als rechtens ansah. Seitdem setzte die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit knallhart diese Richtschnur um, manchmal mit grotesken Entscheidungen, die dann auch seit jüngerer Zeit ausführlich durch die Medien gingen. Trotz Kritik der Öffentlichkeit und von einigen Juristen rechtfertigte die Präsidentin des BAG noch Ende 2008 diese Praxis, Diebstahl sei Diebstahl, auf den Wert komme es nicht an, entscheidend sei der Vertrauensverlust.

Das BAG und die Instanzgerichte blieben 25 Jahre lang bei diesem Konzept, das bei der Interessenabwägung die betroffenen Arbeitnehmer benachteiligte. Denn der Vertrauensverlust begründete die Unzumutbarkeit für den Arbeitgeber, den Betroffenen weiter zu beschäftigen, und damit war die fristlose Entlassung verhältnismäßig und angemessen. So – sicher vereinfacht dargestellt – war die Rechtspraxis über Jahrzehnte. Das Auflösungsinteresse des Arbeitgebers wurde höher bewertet als das Bestandschutzinteresse des Arbeitnehmers an seinem Job.

Damit nirgendwo Zweifel aufkommen, Diebstahl ist eine vorsätzliche Vertragsverletzung, und wer dagegen verstößt, kann entlassen werden. Nur fordert der § 626 BGB als Rechtsgrundlage hierfür nicht den Automatismus zwischen Bagatelldelikt und fristloser Entlassung. Es fordert vielmehr die Berücksichtigung aller Umstände und eine Interessenabwägung, die hinreichend auch die Person des Arbeitnehmers in seinem bisherigen Arbeitsverhältnis erfasst.

Eine Reihe Arbeitsgerichte nahmen 2009/2010 dann eine umfassendere Interessenabwägung vor und gewichteten die gegebenen Umstände objektiver als das BAG. Arbeitsgerichte in Dortmund, Mannheim, Reutlingen, Siegen u.a. erklärten in ihren Entscheidungen zu dort anhängigen Bagatellfällen die fristlose Kündigung für unverhältnismäßig und damit für unwirksam. Sie werteten jahrelange tadelsfreie Arbeit bei langer Betriebszugehörigkeit und die z.T. extreme Geringwertigkeit des Entwendeten oder Verzehrten höher als den Vertrauensverlust.

Es sei hier dahingestellt, ob die sich andeutende Wende auf Druck der Öffentlichkeit oder/und angesichts der Tatsache begann, nachdem Manager, Konzernchefs und Banker Milliarden verzockten und dafür nicht zur Verantwortung gezogen wurden, stattdessen aber etliche Millionen Abfindungen und Bonuszahlungen erhielten, andererseits Urteile gegen Arbeitnehmer bekannt wurden, die nach dem Verzehr von zwei Frikadellen oder Maultaschen ihren Job verloren.

Empörung in der Öffentlichkeit eskalierte

Nachdem das LAG Berlin-Brandenburg im Fall Emmely die fristlose Entlassung wegen zwei unrechtmäßig eingelöster Pfandbons im Wert von 1,30 Euro bestätigte, die Empörung in der Öffentlichkeit zu eskalieren schien und die Klägerin beim BAG Revision einlegte, warteten nicht nur Juristen und die Klägerin mit Spannung auf eine höchstrichterliche Entscheidung.

Das BAG korrigierte seine bisherige Rechtsprechung in Bagatellfällen und wendete die Prinzipien des Kündigungsrechts auch auf diese Fälle an, insbesondere durch die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. In der Sache Emmely trat – so das BAG – in der Tat ein Vertrauensverlust ein, besonders da sie als Kassiererin tätig war. Der Vertragsverstoß war schwerwiegend, aber mit ihrer 30-jährigen tadelsfreien Arbeit hatte die Klägern ein gewisses »Vertrauenskapital« erworben. Insofern war die Reaktion des Arbeitgebers, fristlos zu entlassen, unangemessen. Eine Abmahnung als milderes Mittel wäre hier ausreichend gewesen.

Die eigentliche, weitreichende Bedeutung des Urteils liegt gerade darin, dass es auch bei Bagatellfällen alle konkreten Umstände einbezieht und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit beim Finden der angemessenen Sanktion anwendet. Dieses war ja bislang nicht so.

So werden in der künftigen Rechtsprechung der Arbeitsgerichte die anhängigen Streitfälle über fristlose Entlassungen wegen Bagatelldelikten etwa so behandelt werden müssen wie die Fälle wegen unberechtigten Surfens im Internet oder nicht genehmigter Privattelefonate. Eine Abmahnung wird möglicherweise ausreichen. Tritt der Wiederholungsfall ein, folgt die Kündigung.

Einzelfallprüfung weiterhin angesagt

Die Problematik wird für die Arbeitsrichter nicht einfacher, denn nach wie vor sind alle Umstände des Einzelfalles maßgebend. Immerhin, unberechtigtes Internetsurfen und Privattelefonate, ja kurzzeitiges Fernbleiben von der Arbeit sind vorsätzliche Vertragsverletzungen, ebenso wie der unrechtmäßige Verzehr eines Kuchenstücks oder von zwei Frikadellen. Bei Ersteren wären Kündigungen ohne vorherige Abmahnung kaum denkbar.

Nun wurden wieder Forderungen laut, diesen Komplex endlich gesetzlich zu regeln. Das hört sich gut an, dennoch sind die Erwartungen zu hoch, weil sich die Vielfalt der Einzelfallumstände gesetzlich kaum erfassen lässt. Selbst wenn in einem künftigen Arbeitsvertragsgesetz eine einschlägige Regelung erfolgen sollte, die letzte Entscheidung wird weiterhin beim Gericht liegen müssen.

Fotogalerie: Emmelys Fall vor dem Bundesarbeitsgericht

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