Sie sind allesamt verrückt geworden

Jetzt wäre er 50: Ronald M. Schernikau. Auszüge aus seiner Rede auf dem DDR-Schriftstellerkongress, 1. März 1990

  • Lesedauer: 4 Min.
Das Foto (privat) entnahmen wir der Schernikau-Biografie »Der letzte Kommunist« von Matthias Frings (Aufbau Verlag, 2009).
Das Foto (privat) entnahmen wir der Schernikau-Biografie »Der letzte Kommunist« von Matthias Frings (Aufbau Verlag, 2009).

Meine Damen und Herren,

der Eine weiß das Eine und der Andere das Andere. Ich bin Ronald M. Schernikau, ich komme aus Westberlin, ich bin seit 1. September 1989 DDR-Bürger, ich habe drei Bücher veröffentlicht und ich bin Kommunist.

Die Dummheit der Kommunisten halte ich für kein Argument gegen den Kommunismus. Honeckers Versuch, ein guter König zu sein, so klein und mickrig er auch ausfiel, er war der Versuch zu Konsens. Das Faszinierende an dem Terror der Geistlosigkeit unter Honecker war für mich immer das deutliche Gefühl: Wenn die dürften, wie die wollten, wäre das die Versammlung der Klügsten. Nein, mehr: Es ist, durch den Terror hindurch, schon jetzt diese Versammlung.

Weshalb wollte die DDR nicht, dass man sie lobt? Das werde ich niemals verstehen. In den Westbüchern der Dissidenten las ich immer nur das ungeheure Lied auf die Zukunft. Ich verneige mich vor ihnen allen, und es gibt gegen ihre Erfahrung kein Aber.

Aber da war dieser Konsens. Ich vermute, Sie alle haben diesen Konsens unterschätzt. Er war es, von dem Sie lebten. Er hat Ihre Reden so kunstvoll gemacht, Ihre Kinderbücher so lustig, Ihren Blankvers so spannend. Die BRD hat in ihren vierzig Jahren keinen einzigen Blankvers hervorgebracht, keinen einzigen. – Verteidigt werden müssen nicht mehr Sätze, verteidigt werden muss die Fähigkeit zu Blankvers. Es gibt keinen Blankvers ohne Konsens. Warum haben alle mitgemacht? Weil Sozialismus war.

Wer sich von der Fantasielosigkeit seiner Lehrer beeindrucken lässt, ist selber schuld. Wenn die Dummheit der Kommunisten die Leute zu Antikommunisten gemacht hat: dann war sie deren furchtbarster Fehler. [...]

Der Sieg des Feindes versetzt mich nicht in Traurigkeit, eine Niederlage ist eine Niederlage, das sind Angelegenheiten bloß eines Jahrhunderts. Was mich verblüfft, ist die vollkommene Wehrlosigkeit, mit der dem Westen Einlass gewährt wird, das einverständige, ganz selbstverständliche Zurückweichen, die Selbstvernichtung der Kommunisten. [...] Wo haben sie ihre Geschichtsbücher gelassen? Die Kommunisten verschenken ihre Verlage, die ungarische Regierung richtet in ihrem Land einen Radiosender der CIA ein, und der Schriftstellerverband der DDR protestiert gegen die Subventionen, die er vom Staat erhält. Sie sind allesamt verrückt geworden. [...]

Die DDR hat sich wehrlos gemacht, systematisch, mit offenen Augen. Endlich können wir auch die Erfahrungen der Linken im Westen verwerten!, das heißt: Wir werden sie bitter nötig haben. Wer die Gewerkschaft fordert, wird den Unternehmerverband kriegen. Wer den Videorekorder will, wird die Videofilme kriegen. Wer die Buntheit des Westens will, wird die Verzweiflung des Westens kriegen. [...]

Meine Damen und Herren, Sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, die der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt. Was Sie vorerst begriffen haben: Der Westen ist stark. Sie haben, statt das gute Geschäft Ihrer schlechten Regierung zu fördern, die Feinde der Regierung ins Land geholt. [...]

Die Strategie des Zurückrollens ist aufgegangen. Der Westen hat gesiegt. Er hat gesiegt, weil seine Herrschaftsformen sozialdemokratisch geworden sind. Die spätkapitalistische Ökonomie braucht für ihre Existenz keine Rechtfertigung mehr. Ihre Mechanismen setzen sich durch, ob wir wollen oder nicht. Wie anachronistisch wirkt ein Zentralkomitee gegen die Weltbank, wie einzig sinnvoll aber auch. Schalck-Golodkowski war der letzte Internationalist, sein Ende ist das Ende der Parteibüros im Westen, das Ende der kommunistischen Verlage dort, das Ende des Ortes, an dem ich früher mich befand. Dies ist ein Schmerz, vor dem kalt zu bleiben Sie ein gewisses Recht besitzen; ich will Sie nur auf ihn aufmerksam machen. [...]

Am 9. November 1989 hat in Deutschland die Konterrevolution gesiegt. Ich glaube nicht, dass man ohne diese Erkenntnis in der Zukunft wird Bücher schreiben können.

Vielen Dank.

Ronald M. Schernikau, geboren am 11. Juli 1960 in Magdeburg, kam mit sechs Jahren in die BRD. Seit 1976 DKP-Mitglied, veröffentlichte er 1980 sein literarisches Debüt, die »Kleinstadtnovelle« über schwules Coming Out. Nach sechs Jahren in West-Berlin studierte er ab 1986 am Leipziger Literaturinstitut; seine Abschlussarbeit wurde unter dem Titel »die tage in l.« publiziert. Im September 1989 zog Schernikau nach Ost-Berlin. Im Herbst 1991 starb er, 31-jährig, an AIDS.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal