Osteuropa vor dem Aids-Kollaps

Die Situation von HIV-Infizierten verschärft sich drastisch

  • Markus Bernhardt
  • Lesedauer: 5 Min.
Die 18. Welt-Aids-Konferenz unter dem Motto »Rechte hier und jetzt« vom 18. bis 23. Juli in Wien ist der weltweit größte internationale Kongress zu diesem Thema. Das Treffen wird alle zwei Jahre in einer anderen Stadt abgehalten. In Wien werden etwa 25 000 Teilnehmer aus mehr als 100 Ländern erwartet. Einer der Schwerpunkte liegt auf der Situation der HIV-Infizierten in Osteuropa. Deren medizinische und soziale Situation verschlechtert sich zunehmend

Sechs Tage lang werden die Teilnehmer der Welt-Aids-Konferenz über neue Entwicklungen im Kampf gegen das HI-Virus beratschlagen und sich mit der Verbesserung der Lebensbedingungen von Betroffenen vor allem in den osteuropäischen Ländern beschäftigen.

Seit 2001 hat sich die Zahl der HIV-Infektionen in Osteuropa und Zentralasien fast verdoppelt, wo mittlerweile mehr als 1,5 Millionen Menschen mit dem HI-Virus leben. Im Gegensatz zu westeuropäischen Ländern sind in Osteuropa nicht homo- und bisexuelle Männer, sondern maßgeblich weibliche Drogenkonsumenten und Prostituierte von der Immunschwächekrankheit betroffen. Aktuell verbreitet sich die Epidemie vor allem in der Russischen Föderation und der Ukraine besonders schnell.

Zwei Drittel der HIV-Infizierten sollen Schätzungen zufolge in Russland leben. Dort und in der Ukraine kommt es zu mehr als 90 Prozent aller Infektionen in Osteuropa und Zentralasien. Etwa 1,6 Prozent aller Ukrainer und 1,1 Prozent aller Russen sind mittlerweile mit dem Virus infiziert.

»Die Lebenssituation von Menschen mit HIV und Aids ist in diesen Ländern häufig katastrophal«, so Silke Klumb, Geschäftsführerin der Deutschen Aids-Hilfe e. V. (DAH) am Freitag gegenüber dem ND. Die DAH biete den osteuropäischen Ländern daher ihre Unterstützung und ihre 27-jährige Erfahrung z. B. bei der Vernetzung von Selbsthilfestrukturen an, so Klumb.

Erschwert wird der Kampf gegen HIV und Aids in Osteuropa auch durch die weitreichende Stigmatisierung und Ausgrenzung der Betroffenen. So wird vor allem Drogenkonsumenten oft eine allumfassende medizinische Versorgung verweigert, obwohl der uneingeschränkte Zugang zu Dienstleistungen im Gesundheits-, rechtlichen oder sozialen Bereich allen Bürgern qua Verfassung und Politik vieler Länder ausdrücklich garantiert wird.

Die DAH erneuerte daher am Freitag ihre Forderung auf Einhaltung der Menschenrechte und den Abbau der Diskriminierung der von HIV bedrohten und betroffenen Menschen als Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche HIV-Bekämpfung in Osteuropa. Dies gelte vor allem für die Unterstützung der Selbstorganisation von Projekten für Männer, die Sex mit Männern haben.

Ein weiteres Problem besteht unterdessen darin, dass sich die jeweiligen politisch Verantwortlichen weigern, die Drogen- und Gesundheitspolitik den realen Gegebenheiten anzupassen. Obwohl durch niedrigschwellige Angebote, Nadel- und Spritzenaustausch und so genannte Harm-Reduction-Dienste – also alltagstaugliche Methoden der Schadensminimierung statt strikter Drogenabstinenz – die Zahl der HIV-Neuinfektionen deutlich gesenkt werden könnte, setzt die Politik in vielen Ländern weiterhin auf Repression und längst überholte Konzepte.

Hinzu kommt, dass nur etwa ein Viertel der Erwachsenen, die eine antiretrovirale Behandlung zur Behandlung ihrer Infektion dringend nötig hätten, überhaupt medizinisch versorgt wird.

Um anderen Ländern alternative medizinische Konzepte und Neuerungen im Bereich der Drogenhilfe vorzustellen, ist das Programm des deutschen Pavillons auf der Wiener Konferenz geprägt von vier Schwerpunktthemen. So stellt Dirk Schäffer, Drogenreferent der DAH, am Montag die Harm Reduction vor, die derzeit als vielversprechendster Ansatz in der Arbeit mit Drogenkonsumenten gilt. Am Dienstag sollen Experten über den Stand von HIV-Forschung und -Therapie informieren. In diesem Rahmen soll auch die medizinische Qualität von HIV-Schnelltests erörtert werden, die in Deutschland bei immer mehr Präventionsprojekten zum Einsatz kommen. Darüber hinaus widmen sich die deutschen Teilnehmer der Konferenz dem Thema Menschenrechte. So wird die DAH unter anderem mit Beispielen aus der Arbeitswelt zeigen, wie HIV-Positive vor Ausgrenzung geschützt werden können.

Zahlen und Fakten

UNAIDS


60 Millionen Infizierte

Laut UNAIDS – der Aids-Organisation der Vereinten Nationen – haben sich seit dem Ausbruch der Pandemie vor fast 30 Jahren rund 60 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert, 25 Millionen starben daran. 2008 waren 33,4 Millionen Menschen HIV-positiv, es gab 2,7 Millionen Neuinfektionen, und zwei Millionen Menschen starben an Aids. Die meisten Menschen, die sich mit dem Virus infizieren, sind zwischen 20 und 50 Jahre alt. Im selben Jahr wurden weltweit 430 000 Kinder geboren, die das Virus im Blut haben. Insgesamt leben derzeit 2,1 Millionen Kinder unter 15 Jahren damit. Die am schlimmsten betroffene Region ist Sub-Sahara-Afrika mit den Schwerpunkten Kongo (Kinshasa) und Südafrika, wo zwei Drittel der HIV-Infizierten leben. Gefolgt wird das südliche Afrika von Süd- und Südostasien mit 3,8 Millionen HIV-positiven Menschen und 280 000 Neuinfizierten und von Lateinamerika mit zwei Millionen Betroffenen und 170 000 neuen Infektionen. In Deutschland lebten laut Schätzung des Robert-Koch-Instituts 2009 rund 67 000 Menschen mit dem Virus.

Lexikon

1981 berichtete der US-amerikanische Arzt Michael Gottlieb in der Zeitschrift »Morbidity and Mortality Report« erstmals über eine neue rätselhafte Krankheit. Zunächst wurde vermutet, dass die Immunschwäche nur bei homosexuellen Männern auftritt, aber bald wurden auch Fälle von infizierten heterosexuellen Frauen und Blutern bekannt. Fast 30 Jahre später ist Aids eine der schlimmsten Pandemien in der Geschichte der Menschheit geworden. Das Robert-Koch-Institut bezeichnet die Krankheit als »größte medizinische Katastrophe der Neuzeit«.

Was bedeuten die Begriffe HIV und Aids? HIV steht für Human Immunodeficiency Virus, also »menschliches Immunschwächevirus«. Menschen, die HIV-infiziert oder HIV-positiv sind, haben sich mit dem HI-Virus angesteckt, müssen deshalb aber keine Beschwerden oder Krankheitsanzeichen haben.

Aids bedeutet Acquired Immune Deficiency Syndrome, also soviel wie »erworbenes Immunschwächesyndrom«. Es handelt sich um das durch die Viren hervorgerufene Krankheitsbild. Zwischen der Ansteckung mit dem Virus und dem Ausbruch der Krankheit können viele Jahre liegen. Das HI-Virus zerstört im menschlichen Körper wichtige Zellen, die für die Immunabwehr nötig sind, die sogenannten T-Helferzellen.

Wie steckt man sich mit HIV an? Um sich mit HIV anzustecken, muss eine infektiöse Körperflüssigkeit in den Körper gelangen. Das kann u.a. bei ungeschütztem Sex, durch Verabreichung von infiziertem Blut oder den Gebrauch verunreinigter Spritzen bei Drogenabhängigen geschehen. Zudem kann eine Aids-kranke schwangere Frau das Virus auf ihr ungeborenes Kind übertragen. Besonders gefährlich sind Blut und Sperma, weniger infektiös Vaginalflüssigkeit und Muttermilch. Durch Küssen kann das Virus nicht übertragen werden, da die Mundschleimhaut dabei nur mit Speichel in Berührung kommt, der für eine Übertragung zu wenig Viren enthält. dpa/ND

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