Notizen aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Mülltrennung gibt es nun auch in Venedig. Und, wie das bei den Italienern üblich ist, nach einem überaus komplizierten System. Herauszubekommen, welcher Müll an welchem Wochentag – und nur an diesem! – abgeholt wird, studiere ich ein Informationsblatt, das mich an eine Anleitung zum Ausfüllen der Steuerklärung erinnert. Abholung morgens von sechs bis acht! Streng verboten ist es, den Müll schon abends vor die Tür zu stellen, weil sonst die Ratten von Venedig die leeren Weinflaschen benagen würden.

In meiner ersten venezianischen Sommer-Wohnung in der Calle Malatin herrschte ein für Venedig seltener Luxus: eigene Mülltonnen. In der zweiten klingelte die Müllabfuhr jeden Morgen kurz nach sechs Uhr persönlich an der Tür, um zu fragen, ob ich jetzt nicht mit meiner Mülltüte herunterkommen wolle. Man klingelte nicht nur, man wartete auch auf eine Antwort.

Überhaupt springt der Temperaments-Pegel der Venezianer um Punkt sechs Uhr von Null auf Hundert. Als gäbe es einen einzigen Wecker für die Stadt – und dann fliegen überall, wie auf Kommando, krachend die Fensterläden auf. Kinder, die lärmen könnten, hat Venedig kaum noch, aber unerwartet viele Abkömmlinge der Altersklasse 80 plus. Bei denen scheint es über Nacht zu einem argen Kommunikationsstau gekommen zu sein, die meist schwerhörigen Residenten unterhalten sich von Stockwerk zu Stockwerk in beachtlicher Lautstärke. Etwas zum Aufregen scheint es, dem Vibrato der Stimmen nach, jeden Morgen zu geben.

Dann kommt schon die Müllabfuhr, dann die vielen Lastkähne, die vor den Touristenströmen die Geschäfte beliefern. Die Bauarbeiter arbeiten, wie es scheint, ebenfalls nur zwischen sechs und zehn Uhr am Morgen. Dann herrscht Ruhe. Venedig, ein Ort der Inspiration?

Einmal wohnte ich im Hotel Bucintoro am Arsenale, dicht am Kai, ohne Bad, aber mit Blick auf die Lagune, allerdings zu einem Preis, den zu bezahlen ich bei dieser Zeitung einen halben Monat ausreichend zu schreiben hätte. Wunderbare Lagunenfarbspiele, schräg gegenüber die Salute-Kirche. Ein Ausblick, der mit nichts zu teuer bezahlt ist. Eines Morgens schlug ich die Fensterläden auf und prallte zurück: Keine zehn Meter weiter wuchs eine Wand empor, die den Himmel verdunkelte. Ein Wolkenkratzer, wie über Nacht von New York hierher gebracht. Aber es war nur eines dieser riesigen Kreuzfahrtschiffe, das hier seine geschätzten tausend Passagiere von Bord ließ – zwei Stunden Shoppen in Venedig! Seit Jahren fahren sie nun schon quer durch Venedig hindurch, eine lange schwimmende Reihe von riesigen Luxushotels, die sich durch die Lagune zwängen und deren Schornsteine höher als die höchsten Kirchtürme der Stadt in den Himmel ragen. Für diese Ungetüme hat man die Fahrrinne extra tief ausgebaggert – mit nicht vorhersehbaren Folgen für die empfindlichen Strömungsverhältnisse. Die Stadt wollte sich das Geschäft mit den Kreuzfahrtschiffen nun mal nicht entgehen lassen.

Nur die angekündigten Coca-Cola-Automaten an den Vaporetto-Stationen, vom Bürgermeister als zusätzliche Einnahmequelle favorisiert, entdecke ich nirgends. Kommen die noch, oder sind die schon wieder weg? Statt dessen überall an den Planen der Baugerüste riesige bunte Werbeplakate. Walt Disney in der Lagune?

Der Vaporetto ist abends auf manchen Strecken inzwischen oft halb leer, das gab's noch nie. Doch diesen Preis für eine Einzelfahrt gabs auch noch nie: 6,50 Euro. Ich bin Abonnent der Venezianischen Verkehrsbetriebe (nach zehn Formularen und wochenlangem Warten) und bezahle nun für meine Monatskarte 28 Euro. Für gut vier Einzelfahrten eine Monatskarte? Venedig zeigt deutlich, dass es hier zwei Klassen Mensch gibt: Einheimische und Touristen. Zwischen beiden Klassen herrscht dann auch Klassenkampf nach allen Regeln gegenseitiger Verachtung. Anderswo würde man die Art, wie die Stadt mit ihren Gästen umspringt, schlicht fremdenfeindlich nennen.

In meinem Internetcafé, das verspricht, das billigste der Stadt zu sein, kostet die Stunde beachtliche 7 Euro. Einheimische, die eine venezianische Steuernummer vorweisen können, zahlen nur die Hälfte. Das erinnert mich an die Praxis der Interhotels in der DDR im Umgang mit Devisenzahlern.

Immer sind es zu viele oder zu wenige Touristen. Das rechte Maß gibt es nie.

Vor allem: Der Bauch von Venedig ist groß und wird immer größer. Die Zahl der Hotels muss sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt haben. Dabei ist die Stadt eine einzige Baustelle, und keinen Presslufthammer vor der Tür zu haben, ist wie ein Fünfer im Lotto. Aber was heißt hier Lotto? Es ist so, als wenn der Müllmann vergäße, morgens um sechs zu klingeln.

(Fortsetzung folgt)

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