Tarifmehrheit statt Tarifeinheit? Grundsatz »Ein Betrieb – ein Tarifvertrag« höchstrichterlich gekippt

Arbeitsverhältnisse

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Das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschied in zwei Beschlüssen vom 23. Juni 2010 (Az. 10 AS 2/10 und 10 AS 3/10), vom Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb abzugehen und Tarifmehrheit zuzulassen. Der 4. BAG-Senat hatte schon im Januar 2010 erklärt, dass Tarifverträge, »... die den Inhalt, Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, zwingend und unmittelbar nach § 4 Tarifvertragsgesetz (TVG)« gelten.

»Sie können auch dann nicht nach dem Grundsatz der Tarifeinheit verdrängt werden, wenn der Arbeitgeber durch seine Mitgliedschaft in einem tarifabschließenden Arbeitgeberverband zugleich an einem mit einer anderen Gewerkschaft für Arbeitsverhältnisse derselben Art geschlossenen Tarifvertrag unmittelbar gebunden ist« (Beschlüsse vom 27. Januar 2010, Az. 4 AZR 537/08 (A) und 4 AZR 549/08 (A)).

Ein über Jahrzehnte geltender Grundsatz im deutschen Arbeitsrecht – ein Betrieb, ein Tarifvertrag – wurde höchstrichterlich als nicht mit dem Grundrecht auf Koalitionsfreiheit (Art. 9 Grundgesetz) vereinbar erklärt und gekippt.

Was hat es mit der Tarifeinheit auf sich?
Es war und ist nicht unüblich, dass im Sinne der Koalitionsfreiheit in einem Betrieb mehrere Gewerkschaften aktiv sind und somit auch mehrere Tarifverträge existieren können. Dieser Zustand führte in der Betriebspraxis zu erheblicher Unübersichtlichkeit und damit auch zu Rechtsunsicherheiten. Das BAG entwickelte zur Vermeidung dessen ein im Ordnungsprinzip wurzelnden Grundsatz der Tarifeinheit, wonach im einzelnen Arbeitsverhältnis selbst bei Existenz mehrerer Tarifverträge nur ein Tarifvertrag im Betrieb gelten sollte.

Und welcher sollte gelten? Derjenige, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten steht (Spezialitätsprinzip). Das BAG entschied 1989, 1991 und 1994 entsprechend, welcher Tarifvertrag im jeweiligen Fall gelten soll. So konnte es dazu kommen, dass ein Haustarifvertrag (Firmentarifvertrag) einen Verbandstarifvertrag verdrängte, selbst wenn er schlechtere Arbeitsbedingungen regelte als der Verdrängte. Dieser Rechtspraxis widersprach fast das gesamte Schrifttum im Lande.

So praktikabel der Grundsatz der Tarifeinheit für die am Arbeitsverhältnis Beteiligten auch war, er konnte sich auf Dauer nicht halten. Zu groß war der Widerspruch zwischen Art. 9 Grundgesetz und der Praktikabilitätslösung des BAG: Zufriedenheit bei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden einerseits, erhebliche Bedenken in der arbeitsrechtlichen Literatur wegen Art. 9 GG andererseits.

Gewerkschaften außerhalb des DGB
Und in der Tat: Zunehmend bildeten sich Gewerkschaften außerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes, manchmal rechtswidrig von Arbeitgeberseite gefördert, aber zumeist als ernst zu nehmende Konkurrenten der DGB-Gewerkschaften.

Das zeigte sich in den letzten Jahren an mehreren Branchengewerkschaften, die erheblichen Zulauf verbuchen konnten, weil sich Arbeitnehmer nicht mehr ausreichend von den DGB-Gewerkschaften vertreten fühlten. Ausdrücklich zu nennen sind hier die z. T. erfolgreichen Gewerkschaften wie der Marburger Bund für Klinikärzte, die Pilotenvereinigung Cockpit, die Flugbegleiterorganisation UFO und die Lokführergewerkschaft GDL.

Nach der Durchsetzungskraft dieser Berufsverbände, sicher auch wegen ihrer Schlüsselpositionen der einzelnen Berufsgruppe in ihren Unternehmen, wurde zwar über Tarifeinheit debattiert, aber nie ernsthaft in Erwägung gezogen, die erfochtenen Tarifverträge durch andere verdrängen zu lassen. Praktisch galt dort schon die Tarifmehrheit.

Wenn nun generell der Grundsatz der Tarifeinheit dem der Tarifmehrheit weicht, dann gilt für jedes Gewerkschaftsmitglied der Tarifvertrag seiner Gewerkschaft. Im Betrieb können mehrere Tarifverträge nebeneinander bestehen, die nunmehr aber auch gelten und nicht verdrängt werden.

Das hört sich alles gut an und entspricht sicher auch Art. 9 GG. Aber für eine perspektivisch stabile Arbeitsrechtsordnung sorgt die weitere Zersplitterung der Tariflandschaft nicht. Bei aller Einsicht in die nunmehrige Durchsetzung des Art. 9 und damit der Koalitionsfreiheit im Betrieb, sollte man doch Bedenken anmerken.

Was gilt für Nichtorganisierte?
Zum einen: Völlig offen bleibt, welcher Tarifvertrag auf die nicht geringe Zahl der Nichtorganisierten Anwendung finden soll. Immerhin waren 2009 im Westteil der Bundesrepublik 35 Prozent der Beschäftigten, im Ostteil 49 Prozent nicht tarifgebunden. Bei anhaltender Tarifflucht der Arbeitgeber werden sich diese Zahlen noch erhöhen.

Wenn keiner der geltenden Tarifverträge angewendet wird, werden die einzelnen Arbeits- und Vergütungsbedingungen arbeitsvertraglich ausgehandelt. Hier sind die betroffenen Arbeitnehmer eindeutig in der schlechteren Position.

Weiterhin: Es liegt auf der Hand, dass die zunehmende Anzahl von Tarifverträgen im Betrieb und die nebeneinander geltenden die Situation unübersichtlicher und undurchschaubarer macht als bisher. Es wird auch damit zu rechnen sein, dass verstärkt Drucksituationen bis zur Streikandrohung auftreten werden.

Die Befürchtung mancher Arbeitgeber, kleine Berufsgruppen könnten den ganzen Betrieb lahm legen, sind nicht von der Hand zu weisen. Hierin liegen auch die Gründe, warum die Abkehr vom Grundsatz der Tarifeinheit weder von den Arbeitgeberverbänden noch von den DGB-Gewerkschaften bejubelt wird. Mehr noch: Es wird von Politikern, vom DGB und von der Arbeitgebervereinigung BDA gefordert, den Grundsatz der Tarifeinheit gesetzlich zu regeln, u. U. auch durch Änderung des Grundgesetzes.

Prof. Dr. JOACHIM MICHAS,

(Wird fortgesetzt)

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