Vier Wochen als ZEITUNGSAUSTRÄGER

Ein sehr persönlicher Presserundgang durch Leipzig

  • Michael Zock
  • Lesedauer: 9 Min.
Noch nie hatte ich einen Nerv für die Wettervorhersagen, die abends nach den Tagesthemen für morgens zwischen drei und sechs Uhr verkündet werden. Ob Wind, Regen oder Schnee, mir doch egal, wenn ich mich noch einmal auf die andere Seite drehen kann. Das änderte sich nach dem Entschluss, Zeitungen und Lesern einmal für mehrere Wochen auf sehr direktem Wege zu begegnen. Nicht ganz so wie der »ältere, aber leicht besoffene Herr«, der sich frei nach Tucholsky mal umhört, was denn die Leute so wählen tun, sondern eher als ausgeschlafener nüchterner Mann, den es umtreibt, mal am Wohnort rauszukriegen, wie denn die Leute auf das Übermaß an klugen und dummen Zeitungen reagieren. Zunächst hatte ich die naive Vorstellung: Die Tour durch die Straßen, mit einem meist übervoll bepackten Zeitungskarren, wäre das perfekte Morgentraining, ein sportlicher 3000 Meter Lauf mit abonnierter Nachrichtenübergabe. Es wurde aber eher ein Presserundgang mit interessanten Beobachtungen und tierischen Überraschungen. Ich hatte bis dato überhaupt noch keine Ahnung, wie schnell Zeitungsseiten Schneeflocken und Regentropfen in sich aufsaugen. Somit auch der trockenste Artikel nass und ganze Zeitungsausgaben bei Dauerregen unzustellbar werden können. Dass stürmischer Wind sehr gern, wenn ich im Haus am Briefkasten stehe, vor dem Haus die Morgenausgaben verweht und vom Zeitungswagen auf die nasse, schmutzige Straße blättert. Der Wetterbericht wurde also, je nach Lage, für meinen nunmehr recht kurzen Schlaf zu einem oder eben keinem Ruhekissen. Aller Anfang ist zunächst schrill: Auf drei Uhr zur Vorsicht gleich mal zwei Wecker stellen, das elektronische Piepsen zum Munterwerden und das mechanische Klingeln zum Munterbleiben. Denn nichts wäre für den Start unangenehmer, als den Agenturkurier zu verschlafen, der die gut verschnürten und immer bis aufs Stück ausgezählten Morgenausgaben kurz nach drei Uhr vor meine Haustür fährt, damit ich die gewichtigen Pakete dann im vierrädrigen Karren stapele und zu den Lesern rolle. Möglichst rasch, denn bis spätesten sechs Uhr sollten, so versprechen es die Redaktionen und erwarten es die Verteil-Agenturen, die abonnierten Zeitungen in den Briefkästen stecken. An meinem Handgelenk klappern Schlüssel, ein nicht zu unterschätzendes Privileg. Der Grund: Das Begehen des Hausflures von der Straßentür bis zu den Briefkästen ist in meinem Fall von den Abonnenten ausdrücklich gewünscht. Im Gegensatz zu den Werbeblättern und kostenlosen Wochenzeitungen, über deren Stapel ich jeden morgen steige. Am Nachmittag vor die Haustür gelegt, meist von den Anwohnern keines Blickes gewürdigt, werden sie später in die Mülltonne entsorgt. Das ist der kleine Unterschied zwischen den Zustellern ohne und mit Schlüsselgewalt und der feine Unterschied zwischen erwünschten und unerwünschten Blättern. Letztere mit teilweise hohen sechstelligen Auflagen. Wahnsinn, offenbar kaum zu stoppen. Kaum jemand möchte Werbung, aber jedem drängt sie sich auf, entweder als beigelegte und somit in Kauf genommene bezahlte Zeitungsergänzung zum Abo. Oder die andere Art: Schüler bezahlen mit dem Verteilen, manchmal auch nur Umherschmeißen von Prospekten, Flyern und Pizzareklamen ihre Handyrechnungen. Seltsame Logik: Unnützes wird durch Unnützes erarbeitet. Genervte und des Wegwerfens müde Leute kleben längst kein harmloses »Bitte keine Werbung« mehr an ihre Kästen, sondern drohen schon mit Selbstgedrucktem, etwa in der Art: »Wenn Reklame oder kostenlose Zeitungen zugestellt werden, erfolgt Anzeige beim Bundesgerichtshof.« Jeder Hauseingang ist zunächst ein dunkles Labyrinth. Passt der Schlüssel? Wo ist der Lichtschalter? Brennt das Hauslicht? Funktionieren in den nobleren Fluren die Lichtschranken? Wo befinden sich die Hausbriefkästen? Sind Namen und Zeichen darauf erkennbar? Apropos Zeichen: Es existiert tatsächlich ein Zustellcode. In diese blauen und roten Punkte wies mich mein Vorgänger kurz ein. »Blau« steht für »üblich«, was in meinem Fall bedeutet, die lesen den Marktführer der Region LVZ. »Rot« bedeutet »aufpassen«, da werden die »Süddeutsche Zeitung«, »TAZ«, »Junge Welt« oder »Die Welt«, »Neues Deutschland« aber auch «BILD« gelesen. Diese Kritzeleien verkürzen die Zustellzeit ungemein. Ein Verteilen und Vergleichen nach den gedruckten Abonnementslisten würde ungleich länger dauern. Nun ändern aber bösartigerweise die Leser ihre Abonnements ständig. Sei es, sie fahren in Urlaub, oder sie haben genug von ihrer Zeitung und möchten eine andere kennenlernen. Dann streiche, kreuze und punkte ich an ihren Briefkästen neu. Das haben aber schon Ungezählte vor mir getan. Mit leider auch sichtbaren Folgen. Als eine genervte Frau ihren alten, kupfernen Briefkasten so polierte, dass überhaupt keine Zeichen mehr drauf waren, übersah ich ihr Abo promt. Sie hatte an diesem Morgen zwar einen sauberen Briefkasten, aber leider keine Zeitung drin, ich dafür eine übrig. Ihre Reklamation wurde mir, so rau sind die Sitten, vom Lohn abgezogen. Seitdem ist ihr Briefkasten wieder einer mit Blaupunkt. Ein anderer Leser verbat sich mit Nachdruck jede Bemalung. Den Namen merkte ich mir deshalb, die Zeitung steckte immer im Kasten. Nach zwei Wochen bestellte er sie trotzdem ab. Briefkästen und Zusteller mögen sich nicht immer. Ich empfand die alten Holzbriefkästen aus DDR-Zeiten, die es hier und da noch gibt, als sympathisch. Willig nehmen sie auch die dickste Morgenlektüre auf. Die neuen, goldenen Metall-Kästen, meist in rekonstruierten Jugendstiltreppenhäusern eingemauert, sind dagegen hinterhältig. Da musste ich falten, quetschen und drücken. Diese Kästen wehrten sich mit zu schmalem Schlitz nicht nur gegen meine Zeitungen. Wenn ich die Finger nach dem Hineinstecken zu rasch zurückzog, ritzte das messerscharfe Metall der herunterfallenden Klappe meinen Handrücken blutig, so dass ich den Schmerz und die Zeitungsseite einige Blutstropfen abbekam. Unangenehm für mich, ungewohnt für den Leser, diese Art blutrünstiger Meldung. Nachgefragt hat aber keiner. Die Konstrukteure solcher Ungetüme sollten allerdings mal zum Zeitungsaustragen genötigt werden. Die meisten Abonnenten wünschen ihre Morgenzeitung ganz in den Briefkasten gesteckt. Was ich nicht ahnte: Zeitungen, besonders die aus dem süddeutschen Raum, werden, man höre und staune, gerade auch bei den nobleren Adressen schlichtweg geklaut. Auch die regionalen Blätter, wenn am Dienstag die Fernsehwoche mitgeliefert wird. Beliebt sind auch die Mittwochausgaben mit dem besonders dicken Annoncenteil. Begegnungen mit Dieben hatte ich nie, die warteten sicher, bis ich wieder raus war. Begegnungen mit Lesern schon eher. Da schauen Mann oder Frau schon mal aus dem Fenster oder hinter der Gardine und warten auf den Zeitungsmann, wenn am Sonnabend der Frühstückstisch bereits gedeckt, aber der Briefkasten noch leer ist. Ungeduldige riefen da auch in der Agentur an und fragten während meiner ersten, noch etwas unsicheren Zeitungsgänge, warum denn ihr Leib- und Magenblatt gerade zum Wochenende so spät käme. Eine andere Möglichkeit der Begegnung: Die Wohnungstüren im Erdgeschoss öffnen sich unerwartet einen Spalt breit, und rosa Nachthemden oder schlurfende Schritte im Schlafanzug verlangen nach ihrer Zeitung. Diese vorwiegend älteren Herrschaften passten mich regelrecht ab, hielten mich auch schon mal für beschränkt, da ich sie nicht sofort mit Namen ansprach und auch anfänglich gar nicht ahnen konnte, welche Zeitungen sie denn nun lesen. Einmal habe ich bei einem solchen Zusammentreffen offenbar gepatzt: Eine Dame in den besten Jahren, mit Morgenmantel und Zigarette, gestand mir am Briefkasten, dass die Zeitungen heute mal wieder besonders dick wären und sie gar keine Lust auf deren Reklame hätte. Sie hatte offenbar viel Zeit (und Lust?) für mich. Ich aber pflichtbewusst nicht für sie. Etwas ratlos sah ich den Mann an, der im Nachbarhaus offenbar sehr früh aufgestanden war, um die gestrige Zeitung anzumahnen. Unbegreiflich, denn meine Stückzahl nach der Tour stimmte absolut. Ich konnte also nur um Entschuldigung bitten. Extremeres widerfuhr mir ein paar Tage später: Ein eiliger Leser bekam wunschgemäß die Zeitung von mir in die Hand gedrückt, denn die Nachrichten verkürzen die Zeit in der Straßenbahn. Die länger schlafende Gattin vermisste aber das Exemplar im Briefkasten und legte bei der Telefonbeschwerde noch nach, indem sie behauptete, das ganze Hause wäre heute vom Zusteller vergessen worden. Prompt bekamen alle noch einmal ihre Zeitung durch den Reklamationsdienst nachgeliefert und wunderten sich. Leider reklamiert nie jemand eine Reklamation. Gehe ich von meinen ungefähr 1000 Briefkästen aus, lesen die Leute sehr oft keine und wenn, dann eine Tageszeitung. Seltener ist das Zeitungspärchen mit dem hiesigen Marktführer »LVZ«. Wer diese liest, ergänzt ab und an mit »BILD«, »Süddeutscher Zeitung« oder »ND«. Bei der LVZ-Paarung mit »ND« und »SZ« stand übrigens meist ein »Dr.« auf dem Namensschild. Wer aber nur das »Neue Deutschland« abonnierte, hatte nie gleichzeitig Lust auf »BILD«, eher auf den »Freitag«. Leser der »TAZ« und der »Jungen Welt« duldeten nur ihre Zeitung im Kasten. Offenbar alles auch eine Frage der Finanzen. Bei den überregionalen Blättern wurden in meinen Haushalten »Neues Deutschland« und »Süddeutsche Zeitung« gleich gern gelesen. Zeitungen und Zeitschriften haben offenbar den Duft der großen weiten Welt verloren. Bildete ich mir das früher nur ein, dass »BRAVO« anders roch als »Melodie und Rhythmus«? Ich habe jetzt wirklich nochmal an West- und Ostzeitungen geschnuppert, da ist kein Unterschied mehr auszumachen. Aber beide färben die Hände schwarz beim Austragen. Übrigens: Das ND gleitet nicht nur wegen seiner Schmalheit, sondern auch wegen des meist glatten Papiers wunderbar in die Kästen. So reizvoll es wäre, die Zeitungen, die man austrägt, auch zu lesen - morgens bleibt nur ein flüchtiger Blick auf die vielen Schlagzeilen und das Aktfoto bei »BILD«. Am Tag, als es wenige Meter von meiner Tour entfernt bei der Rekonstruktion des Leipziger Zentralstadions auffällig ruhig zuging, vermutete unübersehbar das »Handelsblatt« auf Seite eins: »Holzmann bricht zusammen«. Die »Junge Welt« verkündete nassforsch »Holzmann geht baden«. Besonders beliebt ist es offenbar in WGs, mal wochenlang eine Zeitung gratis zu lesen. Angestachelt und ermuntert auch durch lautstarke junge Männer in Leipzigs Fußgängerzonen: »Probieren sie doch mal eine Zeitung 14 Tage umsonst!« Ob sich danach ein weiteres Leseverhältnis anbahnt, bemerken natürlich die Zusteller. Ein WG Briefkasten zeichnet sich meist durch eine Fülle von handgeschriebenen Namen auf einem angeklebten Zettel aus. Liest dann 14 Tage Leser X eine Zeitung, um das Abo, wenn es dann an den Geldbeutel geht, doch nicht zu verlängern, folgt Leser Y am gleichen WG-Briefkasten auf dem Fuße. In meinem mehrwöchigen Zustellerleben gab es nicht einen Fall, wo so ein Gratisabo zum Dauerabo wurde. Hier reagieren junge Leser recht clever und kostensparend auf Werbesprüche. Schlag drei Uhr werden in der Großstadt offenbar die Zeitungsausträger und die Katzen munter. Letztere fliehen zunächst vor dem anrollenden, klappernden, blauen Zeitungswagen unter das nächste parkende Auto, nähern sich aber nach gewisser Zeit neugierig, respektvoll, und beobachten. Einer schwarzen Mieze hatte ich es angetan. Sie erwartete mich jeden Morgen, verschwand auch schon mal in meinem Gefährt, wenn ich draußen an den Briefkästen klapperte. Verlockend für sie offenbar die wohlige Papierwärme. Schock für sie, Schreck für mich, als wir uns Minuten später in die Augen starrten. Zum Glück hatte ihre Exkursion kein Malheur auf den Zeitungen hinterlassen. Nach vier Wochen war ich des zeitigen Aufstehens wirklich müde. Ich kannte nun meine Abonnenten und deren Lesegewohnheiten fast auswendig, hatte die Zeitungen, Briefschlitze und Schlüssel auch bei Regen und Wind so im Griff, dass bis sechs Uhr alles verteilt war. Mit Anstrengung, aber ohne Blut und Reklamationen. Ich begann sogar schon, mit einem der Briefkästen zu kommunizieren. Jeden Morgen forderte der mich auf: Füllmich! Ich hätte es sehr gern getan. Leider durfte ich es gerade in seinem Fall nicht. Die Familie Füllmich (sie heisst wirklich so) hatte keine Zeitung abonniert. Unser Autor, Jahrgang 1951, arbeitet als freier Journalist in der Leipziger Region.

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