Welt-Sicht

Die Verschütteten in Chile: ein Gleichnis

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Von Johann Peter Hebel bis Bernhard Kellermann, von den vielen Geschichten um Kaspar Hauser bis zu Günter Eichs Hörspiel-»Mädchen von Viterbo«: Der Tunnel, das Verlies, die Verschüttung als Existenz, die abgrundtiefe Verlorenheit des Menschen im ausweglos Unterirdischen und grausam Unbesonnten verweist auf den so gespenstischen wie immer auch reizvollen Gedanken, mit der Katastrophe zu – spielen. Und aus böser, quälender Einsamkeit eine lehrreiche Philosophie zu keltern.

»Dunkel genossen ist der weltraum sehr dunkel«, lässt Heiner Müller den Fliegerkosmonauten Gagarin sagen, und Ernst Jünger empfand das als einen »faszinierenden Satz«; denn derjenige, der sich da in die Erkundung des Unbekannten gestürzt habe, »vermeldet von dort nur jenes Uralte, das der Mensch so gern verdrängt«. Das Nichts, das Schwarz, das Eisige, das tötende Luftlose. Da katapultiere sich einer, so Jünger, »aus dem Schoß der Erde und versinkt nur wieder in den Schoß, der nichts gebiert, was lebbar wäre«.

Seit Wochen sind 33 die Bergleute in Chile im Dunkel, tief eingeschlossen, siebenhundert Meter unter der Erdbodennarbe, ein Kommentar der »Welt« sprach vom »größten anthropologischen Experiment, an dem die Mediengesellschaft bislang Anteil hatte«. Anteil ist vor allem: Beobachtung. Und wir sehen mit mehr und mehr gemischten Gefühlen auf die Szene. Am Anfang standen einzig nur Erschrecken, drängendes Mitleid, banges Hoffen, gebrochene Zuversicht in die Durchhaltekraft der armen Menschen in ihrer wohl monatelang währenden Ausharrensnot. Dies Mitleid, dies Bangen bilden zwar auch jetzt noch unseren Empfindungsboden, aber unmerklich schlich sich doch auch Gewöhnung ins Gefühl. Die erste Rettungsbohrung wurde erfolgreich abgeschlossen, und aus jenem folterähnlich ausgedehnten Zeitbegriff, der drei Monate Rettungsdauer zunächst zu einer Ewigkeit zerrte, ist ein »Demnächst« geworden. So also sank der weltweite Erregungspegel, und neben unserer Beruhigung, die aus dem inzwischen begründetem Vertrauen ins technische Hilfs-Werk erwuchs, ist da auch etwas Besorgniserregendes: In welchem Tempo schmieren wir ab ins gewöhnliche Reizmaß, das uns die Mediengesellschaft vorgibt?

Kaum noch denken wir an den Tod, der da unten weiterhin mithockt, nein, schon werden die Medienberater mobilisiert. Die Eingeschlossenen erfahren psychologische Beratung, wie sie Interviews zu führen haben, wie sie mediale Bedrängungen unter Kontrolle bringen sollen. Aus Bergleuten waren zunächst leidende Kreaturen geworden, aus jedem von ihnen erwuchs, Dunkeltag für Dunkeltag, ein Märtyrer, ein Held – nunmehr drückt von oben die Verarbeitungsgier der Unterhaltungsbranchen. Noch sind die Männer in der Mine von San José nicht gerettet, da müssen sie schon bewahrt werden vor den Medien jener Welt, in die sie sich zurücksehnen.

Vom »Experiment der Menschheit« schrieb »Die Welt« und verwies auf den Kern der bergmännischen Überlebenspraxis: die »Organisation«, zu der Beten und das Abspielen der Nationalhymne gehört. Im Grunde (hier im wahren Sinn des Wortes) spielt sich tief unter uns das Experiment einer sozialen, ja gesellschaftlichen Findung statt, von dem wir bislang nur Ahnungen haben. Wer ergriff welche Initiative zur Regelung des Lebens? Wer fand zum Tonangebenden, wer sah ein, Anordnungen einfach nur folgen zu müssen? Wie wird Streit gelöst? Herrscht da unten Demokratie im Kleinen? Wie wirken sich Macht- oder Ohnmachtgefühle aus?

Wie es plötzlich funktioniert!, das Zueinanderkommen, das Auskommen miteinander, das Akzeptieren eines Regelwerks. Von daher aber nun die unbedingte Lehrerschaft einer Katastrophe zu beschwören, nur damit wir friedlich und genügsam werden, das wäre Zynismus. Freilich: Im Unglück von Chile ein »Experiment der Menschheit« zu sehen – der Gedanke reizt. Und dies bittere Schicksal der Bergleute darf zum Gleichnis einladen, eben weil inzwischen unser Glaube an ihre Rettung manifest ist. Da unten findet lehrreicher Anfang statt, der ja immer wieder darin besteht, im wahren Sinn des Wortes zur Welt zu kommen. Zur Welt, und nicht nur immer – was freilich einziges Sehnen der Chilenen ist – nach oben zu kommen.
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