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Versprochener Umbau in Kirgistan steckengeblieben

Parlamentswahlen könnten der Opposition Mehrheit bringen

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.
Am Sonntag wird in der zentralasiatischen Republik Kirgistan ein neues Parlament gewählt. Ihm schiebt die neue Verfassung, die Ende Juni durch ein Referendum in Kraft gesetzt wurde, den Großteil der Kompetenzen zu, die bisher der Präsident hatte. Damit soll Machtmissbrauch verhindert werden, der bereits zweimal zu blutigen Unruhen führte.

Ende März 2005 zwang die sogenannte Tulpenrevolution den damaligen Präsidenten Askar Akajew zum Rücktritt. Der in ihrem Ergebnis an die Macht gespülte Kurmanbek Bakijew wurde im April dieses Jahres von der Opposition abgesetzt, das Parlament aufgelöst. Die Macht liegt seither in den Händen einer Übergangsregierung. Deren Chefin Rosa Otunbajewa, die Akajew wie Bakijew zeitweilig als Außenministerin diente, ist gleichzeitig Übergangspräsidentin und, obwohl sie durch das Verfassungsreferendum bis Ende 2011 in ihrem Amt bestätigt wurde, so umstritten wie ihre Ministerriege: ehemalige Oppositionsführer, die nur ihre Gegnerschaft zu Bakijew einte und die sich inzwischen im internen Machtgerangel verschleißen.

Vor allem mit der Schwäche der neuen Macht erklären Beobachter auch, dass Unruhen im ethnisch bunt durchmischten Süden im Juni zu einem regelrechten Gemetzel zwischen Kirgisen und der usbekischen Minderheit eskalierten. Über 2000 Menschen starben, in Großstädten wie Osch wurden ganze Stadtviertel in Trümmer gelegt, die Zahl der Kriegsflüchtlinge erreichte zeitweilig ein halbe Million. Die Parlamentswahlen – davor warnten nicht nur Berufspessimisten wie Politikwissenschaftler und Journalisten – könnten zu neuem Blutvergießen führen.

In der Tat: Direktmandate wurden ersatzlos gestrichen, die 29 Parteien aber, die sich um die 120 Sitze im Shogorku kenesh – dem Obersten Rat – bewerben, haben keine Massenbasis. Sie sind lediglich politischer Arm der ethnisch und regional organisierten Clans, die in Kirgistan traditionell das Sagen haben. Ohne überzeugende wirtschaftliche und soziale Programmatik spielten die meisten Parteien im Wahlkampf zudem die ultranationale Karte aus. Allen voran Atayurt (Vaterland). Dort führen Gefolgsleute des gestürzten Bakijew das Wort. Er gilt der jetzigen Regierung als Drahtzieher der Unruhen im Juni und stänkert aus dem Exil in Belarus permanent gegen Otunbajewa, die von Moskau wie Washington unterstützt wird.

Atayurt, befürchten einheimische Experten, könnte bei der Abstimmung am Sonntag nicht nur im Süden – der Heimat Bakijews – das Rennen machen. Auch in anderen Regionen würden ihr die Stimmen vieler Unzufriedener zufallen. Denn Rosa Otunbajewa wusste die Bevölkerung bisher kaum zu überzeugen. Statt sich der gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme in der bitterarmen Bergrepublik an der Grenze zu China anzunehmen, erklärte sie den politischen Umbau zur absoluten Priorität. Den Nerv der Massen traf sie damit nicht, und ihr Modell einer parlamentarischen Republik versagte bereits in jenen ehemaligen Sowjetrepubliken, die europäischer politischer Kultur näher stehen, beispielsweise Moldova und die Ukraine. Wie gering ihre Zustimmungsraten sind, zeigte erst kürzlich eine am 6. September verkündete Amnestie für Steuer- und Wirtschaftsvergehen im staatlichen wie im privaten Sektor. Ganze zwei Unternehmer nutzten die einmonatige Frist.

Ähnlich verheerend könnte auch das Ergebnis der Wahlen ausfallen, die sie eigentlich legitimieren sollen. Trotz Otunbajewas Bekenntnis zu einem demokratischen Wertekanon schließen Experten Manipulationen nicht aus. Dann aber käme es womöglich auch im Norden zu Massenprotesten. Bis zum Bürgerkrieg, der die territoriale Integrität Kirgistans gefährden würde und, weil dessen Nachbarn ähnlich instabil sind, zum Flächenbrand in ganz Zentralasien eskalieren könnte, wäre es dann nur noch ein halber Schritt.

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