Hinter der Fassade

München: »Rusalka«

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 3 Min.

Natürlich gab es in München kein verspielt lyrisches Opernmärchen zum Saisonauftakt. Wenn einer wie Martin Kušej die Nixe-will-Mensch-werden-Oper »Rusalka« von Antonín Dvorák inszeniert, dann ist das ohnehin nicht zu erwarten. Der Österreicher, der in der nächsten Spielzeit Intendant des Münchner Staatsschauspiels wird, ist eher ein Spezialist für die dunklen Abgründe und den Blick hinter die Fassaden. Auf eine besondere Weise märchenhaft und sinnlich war es dennoch, was da jetzt über die Bühne des Nationaltheaters ging.

Nimmt man Märchen beim Wort, dann sind sie ja ohnehin in ihrer vorfreudianischen Ventilfunktion für die Seele alles andere als kindertauglich. In Martin Zehetgrubers Bühne gibt es die idyllische Natur der Nixen, des Wassermanns und der Hexe immerhin noch als beschädigte Königssee-Panoramatapete. In der Welt der Menschen bröckelt die Ornamenttapeten-Fassade nicht nur, sie stürzt gleich ganz um. Der Prinz, dessen Jagdtrieb sich nicht nur auf Rehe, sondern auch auf die schöne, sprachlose Nixe Rusalka erstreckt, schleppt diese wie eine Beute geschultert davon.

Der Brückenschlag vom aus der Ferne überlieferten zum sich aktuell immer wieder erneuernden Gruselmärchen, den liefert vor allem der Keller, der aus der Unterbühne hochfährt. Der Verweis auf spektakuläre Fälle wie Fritzl oder die gefangene Natascha Kampusch sind (manchen zu) offenkundig. Hier unten haben Wassermann und Hexe ihr geheimes Reich, in dem sie junge Mädchen reihenweise festhalten und sich gefügig machen. Der fulminante Günther Groissböck kommt denn auch als Wassermann wie ein Fritzl-Wiedergänger mit Trainingshose und Bademantel daher. Da ist dann selbst die Fürsorge noch pervers, die er für Rusalka empfindet, als sie bei ihrem Ausbruchsversuch in die Menschenwelt an einer Mauer der kleinbürgerlichen Scheinmoral als Außenseiterin abprallt.

Kusej zeigt uns auch die Kälte der Menschen mit Rusalkas Augen. Etwa, wenn lauter Bräute mit gehäuteten Tierkadavern zum Fest auftauchen oder wenn die fremde Fürstin (Nadja Krasteva) als Vollweib leichtes Spiel hat, Rusalka den Märchenprinzen auszuspannen. Wenn der sich am Ende, in der Psychiatrie, nach Rusalkas eigentlich tödlichem Kuss, selbst ersticht, dann ist Kušej den untergründig brodelnden Rissen der Gegenwart, die den modernen Gruselmärchen über die Fritzls den Stoff liefern, ziemlich nahe gekommen.

Zur spannenden Szene kommt eine musikalische Glanzleistung: mit Tomáš Hanus am Pult des exzellenten Bayerischen Staatsorchesters sowie der Lettin Krístine Opolaís als hinreißende Rusalka und Klaus Florian Vogt als Märchenprinzentenor an der Spitze eines voll überzeugenden Ensembles.

Nächste Vorstellungen: 28., 31. Oktober, 4. November

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