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  • Fokus: Anti-Castor-Proteste

Fanal und Weckruf

Seit über 15 Jahren protestieren Atomkraftgegner gegen die Castor-Fuhren nach Gorleben

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 4 Min.
Nach dem Willen der Atompolitiker soll in den nächsten Tagen das Dutzend voll werden: Seit 15 Jahren rollen die Castor-Transporte mehr oder weniger regelmäßig ins Zwischenlager Gorleben. Der Anti-AKW-Bewegung brachte der Protest gegen die Atommüllfuhren neue Dynamik.

Am 24. April 1995 startet im baden-württembergischen Atomkraftwerk Philippsburg der erste Castor-Transport ins Wendland. Nach 14 Stunden Bahnfahrt trifft der Behälter mit abgebrannten Brennstäben in Dannenberg (Niedersachsen) ein. 8000 Polizisten geleiten die heiße Fracht durch die Blockaden von mehreren tausend Menschen ins wenige Kilometer entfernte Gorlebener Zwischenlager. Mehrfach kommt es zu Knüppeleinsätzen, Atomkraftgegner schleudern Äste und Erdklumpen auf die Beamten. An die 100 Castor-Gegner werden festgenommen.

Mitte der 1990er Jahre steckt die bundesweite Anti-Atomkraft-Bewegung in der Krise. Viele Bürgerinitiativen sind auseinandergefallen, AKW-Gegner und -Gegnerinnen der ersten Stunde engagieren sich in anderen gesellschaftlichen Konflikten, demonstrieren gegen Naziaufmärsche und Abschiebungen oder haben sich ins Berufs- und Privatleben zurückgezogen. Der Widerstand in Gorleben, das 1977 zum Standort für ein »Nukleares Entsorgungszentrum« benannt wurde, ist von den Konjunkturschwankungen der sozialen Bewegungen zwar ebenfalls nicht verschont geblieben, er hat aber ausgeharrt. »Wenn du Standortpolitik machst«, erklärt Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg die Gründe für die Ausdauer der wendländischen Atomkraftgegner, »kannst du dir eigentlich nicht aussuchen, ob du dich mal engagierst und mal nicht.« An einem Tag stimme der Gemeinderat über einen Flächennutzungsplan ab, am nächsten diskutiere der Kreistag über ein Demonstrationsverbot, am dritten beschließe der Landtag den Bau einer neuen Polizeikaserne. »Ständig stehen Entscheidungen an, die nach politischen Antworten und Reaktionen verlangen. Du hast gar keine Zeit, dich zurückzulehnen und zu sagen: Na ja, wollen wir's mal zwei, drei Jahre ruhiger angehen lassen.«

Die BI ist damals längst nicht mehr einziger Protagonist des wendländischen Widerstandes. Daneben agieren die Bäuerliche Notgemeinschaft, die Gorleben-Frauen, die Seniorinnen und Senioren von der Initiative 60, die Grauen Zellen, Schülergruppen, unabhängige Castor-Komitees oder der Motorradclub »Idas« – in der griechischen Mythologie ein Widersacher von »Castor«.

Die Transporte, die von nun an fast jedes Jahr nach Gorleben rollen, werden zum Weckruf, zum Fanal, zum Kristallisationspunkt auch der bundesweiten Anti-Atom-Bewegung. Die Atommüllfuhren entwickeln sich zu einem Dauerkonflikt. Der Staat fährt sein gesamtes Machtpotenzial auf, um die Transporte durchzusetzen. Die teuersten und aufwändigsten Polizeieinsätze ganz Deutschlands gelten dem Geleitschutz für die strahlenden Mülltonnen. Auch am 28. Februar 1997 wird am AKW Neckarwestheim ein Castortransport zusammengestellt. In Lüneburg demonstrieren 20 000 Menschen, in Hitzacker räumt die Polizei besetzte Sporthallen, die als Unterkünfte für die Beamten hergerichtet werden sollen. Bei der »Stunkparade«, dem grimmigen Karnevalsumzug der Bäuerlichen Notgemeinschaft, rollen fast 600 mit Fahnen und Transparenten geschmückte Trecker durchs Wendland – es ist die größte Traktoren-Demo in der Geschichte des Gorleben-Protestes. Im November 2010 erinnert eine Miniaturen-Ausstellung im Schaufenster eines Dannenberger Geschäfts an den damaligen Atommülltransport.

Das Zwischenlager im Gorlebener Wald bietet Platz für 420 Atommüllbehälter. Bislang verlieren sich 91 Behälter in der 180 Meter langen und 40 Meter breiten oberirdischen Castor-Halle. Die gusseisernen Zylinder sind im Innern 400 Grad heiß. Eine Neutronenabschirmung und spezielle Dichtungen sollen dafür sorgen, dass die hoch radioaktive Strahlung nicht nach außen dringt. Und die ist enorm: In nur einem Behälter befindet sich 100 Mal mehr Radioaktivität als im gesamten Atommülllager Asse. Mit den zwölf Castoren, die an diesem Wochenende ins Wendland gekarrt werden sollen, erhöht sich die Zahl der Behälter auf 102. Jeder weitere Castor zementiert Gorleben auch als Endlagerstandort, sagen die Atomkraftgegner. Denn wenn Gorleben zum deutschen Endlager für hoch radioaktiven Müll wird, müssten die Abfälle aus dem Zwischenlager in neue Behälter umgepackt, nur ein paar hundert Meter weiter in den Salzstock gebracht und verbuddelt werden. Ein anderes, womöglich Hunderte Kilometer entferntes Endlager würde dagegen an anderen Orten neue Castortransporte, neue Proteste und neue Polizeieinsätze bedeuten.


La Hague

Der Castor-Transport aus der Wiederaufbereitungsanlage La Hague steht seit Mittwochabend im nordfranzösischen Bahnhof Valognes bereit. Elf Behälter mit hoch radioaktivem Atommüll sollen per Bahn ins Zwischenlager Gorleben transportiert werden. Als Abfahrtermin wird heute Nachmittag gehandelt, im Wendland wird die Fuhre im Laufe des Sonntags erwartet.

Müll aus deutschen Atomkraftwerken wurde seit 1979 zur Wiederaufbereitung nach La Hague gebracht. Der größte Teil ist schon zurück. Geplant sind noch zwei Castor-Transporte nach Gorleben – an diesem Wochenende und im nächsten Jahr.

Die Anlage in La Hague wurde 1966 in Betrieb genommen, zunächst für militärische Zwecke: Frankreich wollte aus radioaktiven Abfällen Plutonium für den Atombombenbau gewinnen. Seit den 70ern werden abgebrannte Brennstäbe aus Atomkraftwerken wiederaufgearbeitet. 1980 wurde die Fabrik erweitert, auch wegen der zahlreichen Kunden im Ausland. Heute schickt nur der niederländische Stromkonzern EPZ noch Atommüll nach La Hague; die Betreiberfirma Areva sucht neue Kunden.

In der 300 Hektar großen Anlage arbeiten rund 6000 Menschen. Hier lagern laut Greenpeace rund 9000 Tonnen noch nicht aufbereiteter Atommüll in Abklingbecken und 6400 Blocks mit aufbereitetem Müll, der in Glaskokillen oder Betonblocks gegossen wurde. Die französische Atomaufsicht warnt vor dem schlechten Zustand der über 20 Jahre alten Betonbehälter und forderte Areva auf, diesen Müll angesichts der Gefahren neu zu verpacken. AFP/ND

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