Nach Berlin!

Ein vergessenes Stück Walter Mehrings an Castorfs Volksbühne

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Früher stand die Volksbühne, dies Haus vorm Eingang zum Prenzlauer Berg, wie ein steinerner Koloss, der jedem, der hierher kam, einen Weltübertritt signalisierte. Stand da, als wolle sie alle etablierte Hässlichkeit, alle gemütsummauernde Härte, all den grauen, aber doch lebendigen Schmutz eines speziellen sozialen Berliner Lebensraumes ankündigend ins Bild setzen, in schier übermächtig thronender Geste. Einst war dieses Theater das Tor zur Brodelküche eines geheimnisvoll hinterhöfischen Ostens. Heute steht es nur noch wie ein versehrter Fels vor einem weiteren Teil Westen der Stadt. Letzte Tankstelle der Melancholie und des schmuddeligen Trotzes vorm Neubaugebiet jener modernen jungen Schickeria, die kokett und verliebt am Schmutz der Altzeit schnüffelt – um es unaufhaltsam tot-, also schönzusanieren.

Vom Bülowplatz über den Horst-Wessel-Platz hin zum Rosa-Luxemburg-Platz: eine Geschichte der plebejischen und völkischen Hoheitskämpfe zwischen Links und Rechts. Hier erschoss Mielke zwei Polizisten, hier wurde Wessel abgeknallt, hier prallte Rot auf Braun, bis aufs Messer, auf jeden Fall bis aufs Blut; hier inszenierte Piscator mit gewaltiger Maschinerie sein proletarisch erzieherisches Masse-Mensch-Theater, hier ist Frank Castorf schon jetzt der am längsten ausharrende Intendant der Berliner Bühnengeschichte.

Rund um die Volksbühne wurde, wenn man zurückgeht ins 20. Jahrhundert, Volkes Bühne durchgehend bespielt. In der Gegend hinterm Alexanderplatz erstreckten sich Häuserkomplexe mit endlosen Durchgängen, Lagerhallen und Werkstätten; Verkehr zwängte sich durch Enge, Aufzüge kreischten, hinter Mauern stampften Maschinen, in den Unterböden Stampen und Spelunken; Tanzlokale und Bars dicht an dicht, »auch die Gassen des Scheunenviertels waren zwar nicht mehr von Juden belebt, über die keiner reden mochte, aber doch, wie in Döblins Zeiten, von Huren«, wie es Günter de Bruyn für die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieb.

Castorf möchte über Juden reden. Lässt sie jiddeln, dass wir nur Bahnhof verstehen und etwas verstehen – von Kultur jenseits akuter Leitkulturlosigkeit. »Der Kaufmann von Berlin« heißt das 1929 uraufgeführte, von SA bespuckte und nie wieder aufgetauchte Stück von Franz Mehring. Castorf holt's hoch, hält es uns vier Stunden lang hin. Er hat es eingerichtet, gerettet ist es nicht. Aber das ist bei Castorf nicht der Punkt. Auch hier hat die Vorlage vornehmlich eine einzige Aufgabe: Anlass zu sein für ein theatralisch-essayistisches, spektakelproppenvolles Gedanken-Spiel. Über die böse Blindheit der Geschichte. Über Glanz und Elend jenes Enthusiasmus, die Welt verstehen, beherrschen, verändern zu können. Über den Wahnsinn, gut durchs Leben kommen zu wollen und sich dabei unwillkürlich schuldig zu machen.

Berlin in den Zwanzigern. Rummel, Raunen, Rassenhasskeime. Das Pflaster muss gekocht haben damals, denn die Menschen tanzen. Charleston. Das Stück erzählt die Geschichte des Ostjuden Kaftan, der in Berlin sein Geldgeschäftsglück machen will. Es ist eine Geschichte, in der finanzielle Sucht auf andere Sehnsüchte trifft, Dollar gegen Liebe steht, der bankerische Ehrgeiz gegen die Not mit der todkranken Tochter; und an der Seite des Juden ein anwaltsverkappter Nazi, der die Gelder in einen rechten Putsch umleitet. Spekulation treibt an, treibt schönste Blüten, treibt in den Sumpf der Niederlage. Noch ist der Jude Kaufmann und merkt nicht, dass er bald nur Jude sein wird.

Das erzählt Castorf als historischen Bilderbogen. Kein niedlicher Ruppiner Bilderbogen ist das, sondern ein ruppiger. Die Inszenierung lässt der Handlungswirre freien Auslauf, die Einsprengsel zu deutscher Vor-Geschichte des Dritten Reiches stopfen den Abend reichlich zu; es wird mehr geröhrt als gesprochen; Wassereimer leeren sich, als sollten sie Spree spielen; eine Nazi-Rauschnacht zwischen Parteistrafgericht, Puff und Prügelei steigert sich zur Slapsticknummer mit einer Klinke, die immer wieder aus der zuknallenden Bühnentür fliegt. Bert Neumann baute ein hohes rot-weiß-gestreiftes Rundzelt, das sich zu klitzeknappem Eisenbahnabteil oder Büro oder aber sehr weit öffnet; Prospekte zeigen Schlangen vor Geschäften oder ein antisemitisches Hetzplakat, die Zeltwand ist auch Leinwand fürs Video hinter der Plane: eine verdüsterte Kneipe für Geschäfte, versoffenes Geprotze, Stammtischwortgekotze.

Nach Moskau, Nach Moskau!, hatte Castorfs Theater soeben gerufen, in rauer herzlicher Anlehnung an Tschechow. Jetzt brüllt es: Nach Berlin! Nach Berlin!, wo es doch schon immer war. Es brüllt sich die Seele aus dem Leib, so dass wir sie sehen können, diese Seele: Sie will es heiß, sie will es extrem, sie brennt für einen Darwinismus, der die Urgründe der bösen, spannenden, tragischen, grausamen, notvollen, also erfinderischen Existenz des Menschen offenlegt – und liegen sie dann erschreckend komisch offen, diese menschlichen, politischen, ideologischen Abgründe, die jeden verschlingen, und hier verschlingt auch jeder sich selbst, indem er sich aus irgend einer Schlinge zu befreien sucht, liegen sie denn also offen, diese Abgründe, dann wiederum wird diese sehr besondere Theaterseele befeuert vom Mitleid für die Gedemütigten und Geprellten, die Gepeinigten und Geschichtsverstoßenen.

Das ist der penetrant inkorrekte Witz Castorfs, seine boshafte Lust an der Collage von Anschlag und Anteilnahme, das ist der stirnkühle, dann wie aufgedrehte Wider-Sinn dieses Theaters, seit eh und je. Insofern ist Castorf auch hier »nur« Wiederholungstäter, inszeniert weiter und weiter am ewig gleichen Bilder-Text seines antigeschichtlichen Unmuts.

Die Seele spielt sich nicht selber aus dem Leib. Sie hat Berserker. Großartig Sophie Rois als Kaftan, sie gibt die Raff-Raffinesse weiblich, das Mutterherz männlich. Bärbel Bolle, Maria Breitkreiz, Maria Kwiatkowsky, Mark Hosemann, Mex Schlüpfer und Volker Spengler vereinen in wechselnden Rollen alles, was Castorfs Theater haben muss, um so geheißen zu werden: Radau-Rumor, Improvisationsgabe, Körperkampfgeist, Sprungfedernverrücktheit oder lüstern bleierne Schwere, dann unbedingt ein grober Deutlichkeitsnerv und Furcht vor Filigranem – um es dann sekundenschnell zur schönsten, rührendsten Feier zu erheben. Dieter Mann als Nazi-Müller: die Heimtücke in Prokuristenfasson; der bürgerliche Wurmfortsatz im sich blähenden deutschen Volkskörper, militärisch scheitelstraff und doch charakterschwabblig bis zum Gehtnochmehr.

Wenn Bärbel Bolle und Maria Kwiatkowsky, wie Hure jung und Hure alt, wie Jüdin jung und Jüdin alt, auf großer Bühne einsam, aber sehr gegenseitig ein paar leise Wehmuts-Worte wechseln; wenn die Kwiatkowsky dabei auf einer Flak sitzt und ins Publikum ballert; wenn jeder dieser Schüsse doch nur ein traurig aufblitzendes »Plop« ist, als solle derart elendig kindisch die Geschichte aller Opfer-Auflehnung erzählt werden, nämlich als bitter linkische Vergeblichkeit; wenn eine große Fotowand Berliner Wald zeigt und am Ende das gleiche Foto noch einmal hereingedreht wird, jetzt freilich mit der anfangs wegretuschierten Wahrheit: jenem Schild, dass Juden in »unseren« deutschen Wäldern unerwünscht seien; wenn dieser eben noch reiche Kaftan, dieser Spekulationszerfieberte am Ende vor dem Nichts steht, aber eben nicht nur verzweifelt, sondern schon wieder als neuerlich Fiebernder, wenn also das Sinnbild des ewig ergebnislos Wandernden verschmilzt mit dem ebenso ewigen Giergetriebenen – wenn solche Momente, versteckt in Räudigkeit und rasender Wildheit der Dramaturgie, summiert werden, dann zeigt sich Castorfs Gespür für Gefühl. Aber er geht mit Gefühlserregern sorgsam um: Konsequenz eines Theaters, das just aus dem Weltmangel an wahrhaft humanen Zwecken die Mittel übersteigert, um dieses Dilemma zu verdeutlichen.

Die Seele des Castorf-Theaters hat auch in dieser Inszenierung keine Scheu, ihre mechanischen Teile zu zeigen, denn es tendiert manchmal bedenkenlos zur Maschine, zum Fließband der gauklerischen Albernheiten. Diese Seele würde freilich an allen Erwachsenwerdensträumen ersticken, es will Kindertheater bleiben, es will nicht Leben spielen, sondern spielend leben; es will nicht vernünftig, logisch, überschaubar, mustergültig werden – es beherrscht nichts besser als den Vorwand der Lächerlichkeit, hinter dem es freilich auch an diesem Abend an sehr traurige Dinge rührt.

NächsteVorstellung: 25.11.

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