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Abit und das Tor zum Leben

Heute erhält die Ärzteorganisation »Physicians for Human Rights Israel« den Alternativen Nobelpreis

  • Indra Kley, Jaffa
  • Lesedauer: 4 Min.
Sprechstunde in Jaffa
Sprechstunde in Jaffa

Die »Ärzte für Menschenrechte Israel« stellen sich dem Flüchtlingsproblem, das ihr Staat so gerne ignorieren möchte. Für ihr Engagement erhält die Organisation heute in Stockholm den Alternativen Nobelpreis. Doch oft sind den Medizinern die Hände gebunden

Abit ist HIV-positiv. Vor zehn Wochen wurde der Sudanese aus dem Gefängnis in Beer Sheva entlassen. Drei Monate war er dort interniert, nachdem ihn die israelische Grenzpolizei bei seiner Flucht über den Sinai aufgegriffen hatte. »Dort habe ich wenigstens meine Medikamente bekommen«, erzählt er auf Arabisch. »Aber seitdem ich draußen bin, habe ich nichts. Kein Geld, keine Arbeit, keine Tabletten.« Nun wartet Abit. Darauf, dass er irgendwann als Flüchtling anerkannt wird und eine Arbeitserlaubnis bekommt. Und darauf, dass ihm bis zu eben jenem Tag die »Ärzte für Menschenrechte Israel« helfen. Von ihnen, so hofft Abit, bekommt er die für ihn lebenswichtigen Medikamente.

Es ist Sonntagnachmittag, 17 Uhr. In dem kahlen Empfangsraum der Offenen Klinik sind alle Plätze belegt. Sudanesen, Eritreer, einige Asiaten sitzen hier, Junge, Alte, Frauen. Ein paar Kinder spielen zwischen den Stühlen Fangen. Wer drinnen keinen Platz bekommen hat, hockt vor der Tür auf der Straße. Die Klinik ist an fünf Nachmittagen pro Woche geöffnet. Bis zu 70 Patienten werden hier täglich behandelt, »je nachdem, wie viele Ärzte wir da haben«, wie Klinikleiterin Iman Agbaria erklärt. Insgesamt 200 Mediziner stehen auf der Freiwilligen-Liste, dazu kommen hunderte Studenten, Krankenschwestern und Menschen mit Gesundheitsberufen, die nach Feierabend bei den »Ärzten für Menschenrechte« aushelfen

Professor Zvi Bentwich ist einer von ihnen. Der 75-jährige Immunologe engagiert sich seit zehn Jahren bei der Organisation, ist mittlerweile deren Vorsitzender. Obwohl Bentwich als Soldat in zwei israelisch-arabischen Kriegen gekämpft hat, ist er gegen die Besatzung der Palästinensergebiete. »Ich gehöre also zur Linken«, sagt der schlanke Mann und lächelt verschmitzt wie ein Junge. »Und ich glaube, dass das Recht auf Gesundheit ein grundsätzliches, grenzübergreifendes Recht ist.« Einmal im Monat fährt Bentwich mit der mobilen Klinik der Organisation ins Westjordanland, um dort Palästinenser zu behandeln. Noch häufiger hat er seit einiger Zeit jedoch mit der Offenen Klinik zu tun, die von kranken oder verletzten afrikanischen Flüchtlingen überlaufen wird

»Früher haben wir meist Arbeitsmigranten behandelt oder Palästinenser, die sich illegal in Israel aufhalten«, erzählt Klinikleiterin Agbaria. »Aber heute sind 75 Prozent unserer Patienten Flüchtlinge aus Afrika.« Diese könnten nicht einmal die umgerechnet sechs Euro aufbringen, die beim Erstbesuch normalerweise für das Anlegen einer Krankenakte berechnet werden. »Wir sind der einzige Ort, an dem diese Menschen einfach medizinisch versorgt werden – aber wirklich nur einfach. Dabei brauchen viele eigentlich Operationen, Therapien oder eine Reha.« Die Geschichten hinter den Verletzungen sind grausam: Da ist die Sudanesin, die auf der Flucht vergewaltigt wurde und nun, in der 24. Schwangerschaftswoche, abtreiben möchte. Da ist der junge Mann, der beim Grenzübertritt sieben Schussverletzungen erlitten hat. Und da sind die zahlreichen Schnitt- und Brandwunden, die Flüchtlingen von ihren Schleusern zugefügt wurden, um noch mehr Geld zu erzwingen.

Mehr als 100 solcher Aussagen haben die Ärzte bereits gesammelt. Bei den israelischen Politikern stoßen sie damit jedoch auf taube Ohren. Diese begegnen dem Flüchtlingsproblem auf ihre Art: Seit November wird an der Grenze zu Ägypten ein Zaun errichtet. Vor wenigen Tagen beschloss die Knesset zudem den Bau eines Internierungslagers in der Wüste Negev. Hier sollen die illegalen Einwanderer – die laut Innenminister Eli Yishai von der Schas-Partei nicht nur die Arbeitsplätze der Einheimischen gefährden würden, sondern auch den jüdischen Charakter Israels – festgehalten werden. Doch die rund 30 000 bereits im Staat lebenden Flüchtlinge aus Sudan, Äthiopien und Eritrea fristen weiterhin ihr Schattendasein – ohne Anerkennung, ohne Geld, ohne medizinische Versorgung

Abit sitzt nach mehreren Stunden Wartezeit nun endlich im Behandlungszimmer Nummer Eins, einem kahlen Raum mit einem Schreibtisch, einer Liege und einem veralteten Ultraschallgerät. Professor Bentwich blättert durch die Papiere, die Abit in der bunt bedruckten Plastiktüte mitgebracht hat, in der jetzt sein Leben steckt. Er macht einen guten Eindruck, trotz der HIV-Infektion. So gut, dass Bentwich ihn zunächst ohne Tabletten gehen lässt und ihn erst in drei Monaten für weitere Tests wiedersehen will. Abit ist enttäuscht, will widersprechen. Doch Bentwich bleibt hart. Die Mittel der Organisation sind stark begrenzt, er kann nicht jedem gleich helfen. »Ich wünschte mir in solchen Momenten immer, ich hätte die israelische Bevölkerung in meiner Hosentasche«, seufzt er, als Abit gegangen ist, »damit sie sehen, was in ihrem Land passiert.« Dann klopft der nächste Patient. Das Wartezimmer ist noch immer voll.

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