Exklusiv: Ein Schutzengel erzählt

  • Charlotte Noblet
  • Lesedauer: 4 Min.
Den VIP´s mag es recht sein oder nicht, die Veröffentlichung des Tagebuchs von Marilyn wird als Präzedenzfall angesehen: Diesmal wird allerdings das Tagebuch eines Schutzengels zu Weihnachten publiziert. Die ND darf exklusiv Passagen veröffentlichen.
"Im Rahmen der Gesundheitsreform wurde meine Arbeit als Gemeindeschwester gestrichen. Eine geförderte Arbeitsmaßnahme wurde mir angeboten, als Schutzengel. Laut Vertrag soll ich meine Patienten nicht mehr pflegen sondern schweigend begleiten und zuhören. Dafür habe ich eine Bluse mit der Aufschrift "für eine sinkende Arbeitslosigkeit" vom Amt bekommen und einen Terminkalender mit Namen der Personen, die ich betreuen soll. Freie Termine gibt es auch noch, für Menschen mit "Initiativbewerbungen". Wie soll das nur alles laufen? Bin ich wie eine Art Kundenservice und die Leute melden sich bei mir, wenn sie Probleme haben?"

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"Was für eine erste Erfahrung! Jetzt ist mein Klient glücklicherweise wieder weggeflogen, zurück in sein "Driver's Cafe" in Texas. Meine Güte, der hatte so viele Biere getrunken! Auf der Karl-Marx-Allee beim Berliner Bierfestival hat er ständig vom Oktoberfest gesprochen. Wie peinlich! Ich glaube meinen Cowboy hat es irritiert, dass so viele in der Öffentlichkeit trinken. Und ehrlich gesagt, meistens habe ich von dem Trunkenbold nur Bahnhof verstanden! Ich weiß nur, dass ihn die Plattenbauten in Lichtenberg fasziniert haben: Der hat davon ständig Fotos an seinem Bruder in Amiland geschickt, mit seinem "mobile": ein neuer Trend am Horizont?!"

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"Was für eine schwierige Betreuung, der Junge ist schon so resigniert! Der ist in die Armee eingetreten, um von zu Hause weg zu gehen und später studieren zu können. Jeden Abend dreht sich die gleiche Frage in seinem Kopf: "War es richtig so?" Er erlebt so viel hier in Afghanistan, selbst die Offiziere scheinen von der Situation überfordert zu sein! Manchmal muss mein Junge sogar eine Träne trocknen, im Dunkeln. "Ah, diese blöden Studiengebühren, wo wäre ich wohl ohne sie?" Nach diesen Verzweiflungshöhepunkten träumt er dann oft noch von besseren Tagen, es ist beruhigend. Einer seiner Wünsche ist, sich dank einer Enthüllungsaffäre mit erhobenem Haupt von der Situation verabschieden zu können und der Welt dank Wikileaks mitzuteilen, was hier zu Lande alles passiert."

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"Schlimm ist es! Seit zwei Wochen lebe ich auf dem Sofa von Oma Elisabeth und esse drei Mal am Tag Milchbrei, Kartoffelpüree oder Kartoffelsuppe. "Helmut, hast Du Deinen dicken Pulli an? Ich drehe die Heizung runter." Die gute Dame hat den Tod ihres Helmuts nach einem Jahr immer noch nicht registriert und führt täglich die gleichen Rituale aus. Die Tagesschau gehört zum Abendessen wie die Kartoffelsuppe. Für mich ein Zitterpartie: Oma Elisabeth sorgt sich um die Welt und füllt Überweisungsscheine für alles mögliche aus. Das wäre ja noch halbwegs gesund, wenn sie sich nicht immer wieder um ihre Rente sorgen würde! "Helmut, unsere Renten werden verkauft, um die Banken zu retten! Diese jungen Leute an der Regierung sind sowas von unerfahren!" Seit ein paar Tagen ist es mit den Nachrichten ganz schlimm geworden. Oma Elisabeth. hat von den Rentenstreiks in Frankreich erfahren. Sie ärgert sich, dass es in Deutschland damals still geblieben ist und will es nachholen. "Helmut, wir sollten bei den Banken demonstrieren und nach unserem Geld fragen, oder? Wenn wir uns dahin setzen, wird die Polizei uns nicht so leicht wegtragen können, wir sind doch so zerbrechlich!" Dann steht sie auf und zieht ihre dicke Strickjacke an. Das reine Zuhören ist hier besonders schlimm, ich würde gerne etwas dazu sagen! Was hätte Helmut gesagt? Hätte er überhaupt was gesagt? "Helmut, hast Du Deinen dicken Pulli an? Ich drehe die Heizung runter." Oma Elisabeth hat ihr Vorhaben schon wieder vergessen und kommt bisher nicht weiter. Die Macht der Gewohnheit.

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""Karriere zu Ende, bitte aussteigen". Puh! Ich bin echt weit rumgekommen und das sogar ohne Flügel - dieses Accessoire haben nur die festangestellten Schutzengel. Für "meine treuen Dienste" hatte ich den Auftrag erhalten, Schutzengel für den Umweltminister zu sein. Ich habe viel zugehört, alles aber unter dienstlichem Geheimhaltungsversprechen, und ich bin noch viel mehr um die Welt geflogen. Doch als mein Klient sich für einen Besuch in Gorleben entschieden hat, habe ich eine Panik-Attacke bekommen. Was wird, wenn wir das Zwischenlager besichtigen und ich auf Pressefotos neben dem Minister erscheine? Außerdem will ich dieses Gerede ganz bestimmt nicht hören ohne etwas sagen zu können. Ich könnte streiken...bin ja kein deutscher Beamter! Aber die Stelle ist gefördert... also lasse ich mich lieber Krank schreiben und gehe demonstrieren. Der Arzt aus dem Wendland hat "gerechtfertigte Angst vor AKW-Müll" als Diagnose geschrieben. Leider sah es das Amt anders: Es hat mir meine geförderte Stelle als Schutzengel gestrichen. Dafür habe ich jetzt einen Ein-Euro-Job als Weihnachtsmann in einer Einkaufpassage."

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