Von der Kunst des Spaltens

Wir gegen die: Wie der gesellschaftliche Zusammenhalt hergestellt wird

  • Stephan Kaufmann, Eva Roth, Raul Zelik
  • Lesedauer: 8 Min.
Dass es einen Gegensatz zwischen Reichtum und Armut gibt, kann schon mal aus dem Blick geraten, wenn ständig Junge gegen Alte oder Ausländer gegen Einheimische in Stellung gebracht werden.
Dass es einen Gegensatz zwischen Reichtum und Armut gibt, kann schon mal aus dem Blick geraten, wenn ständig Junge gegen Alte oder Ausländer gegen Einheimische in Stellung gebracht werden.

SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf wirft Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) vor, mit seinen Äußerungen zu »Stadtbild« und Migration zu spalten. Der CDU-Arbeitnehmerflügel mahnt den Kanzler, er habe »eine besondere Verantwortung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft«. Und laut Berlins SPD-Fraktionschef Raed Saleh »schadet Merz nicht nur dem gesellschaftlichen Miteinander, sondern auch ganz konkret unserer Wirtschaft«. Diese Kritik geht aus von einem gesellschaftlichen Zusammenhalt, der zwar permanent gefährdet, aber irgendwie doch vorhanden sei. Dem zugrunde liegt ein Bild der Wirtschaft, das die kapitalistische Normalität auf sehr spezielle Weise interpretiert.

In diesem Bild finden sich keine Klassengegensätze. Stattdessen wird der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit aufgelöst in ein funktionales Miteinander. Der Begriff des Kapitalismus wird dabei ersetzt durch »unsere Wirtschaft«. An ihr sind alle Menschen im Lande beteiligt – Lohnarbeitende, Kapitalisten, Grundeigentümerinnen gelten wie auch Beamte, Börsianerinnen und andere als »Erwerbstätige«. Gemeinsam produzieren sie die Wirtschaftsleistung und teilen ein Interesse an ihrer Erhöhung. Es ist eine Gesellschaft der Kooperation, nicht der Gegensätze. Benannt wird die Gemeinschaft in Begriffen wie Bruttoinlandsprodukt, Volkseinkommen oder Nationalökonomie: Inland, Volk, Nation.

In diesem fiktiven Gemeinschaftswerk leisten alle ihren Beitrag: die Unternehmerinnen ihre Produktionsmittel, die Grundeigentümer ihren Boden und die Lohnabhängigen ihre Arbeit, die als etwas Gutes gilt. Sie ist nicht Mittel des Profits, sondern ein Dienst an der Gemeinschaft, der Ansprüche auf Teilhabe begründet. In Zeiten der Krise, wenn wie derzeit von der Politik Opfer gefordert werden, beginnt die Jagd auf jene, die im Verdacht stehen, nicht das Ihre zu »unserer Wirtschaft« beizutragen und damit die Krise zu verschärfen oder gar zu verursachen: Migranten, Arbeitslose, Kranke, Alte.

Indem auf diese Weise die unnützen Menschen von den nützlichen abgespalten werden, sollen sozialer Friede und Zusammenhalt aber nicht aufgekündigt werden. Vielmehr dient die Spaltung dazu, die Fiktion des Gemeinschaftswerks von Armen und Reichen aufrecht zu erhalten, an dem alle gleichberechtigt mitarbeiten oder mitarbeiten sollten. So werden die wirklichen Gründe der Krise verschleiert und die Gemeinschaft gestärkt. »Den Zusammenhalt wieder herzustellen und die Zukunft für unser Land zu gewinnen, dafür trete ich an«, hatte Merz vor der Wahl versprochen. Stephan Kaufmann

Ausländer gegen Einheimische

Sozusagen der Klassiker des Spaltens: »Die Ausländer dies, die Ausländer das ...« Übrigens auch bei der Sozialdemokratie. So verkündete Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt in einem Interview 2004, also während der Umsetzung der Hartz-IV-Reformen: »Es war ein Fehler, dass wir zu Beginn der sechziger Jahre Gastarbeiter aus fremden Kulturen ins Land holten.«

Just in dem Moment, als eine rotgrüne Regierung die Repression gegen Sozialhilfeempfänger verschärfte, zeigte der sozialdemokratische Ex-Kanzler mit dem Zeigefinger auf Menschen, die sich angeblich nicht gut genug in das deutsche Arbeits- und Leistungsregime integriert hatten. Ausländer, das waren für Schmidt jene Arbeiter*innen, die sich vor gesundheitsbelastender Arbeit in die Sozialhilfe flüchteten oder zu viel auf der Straße aufhielten.

Der »Ausländer« ist deshalb so eine perfekte politische Figur, weil er das Entstehen von Klassenbewusstsein verhindert. Zunächst sorgt das Migrationsrecht dafür, dem »Ausländer« manche oder alle sozialen und politischen Rechte vorzuenthalten. Die Betroffenen werden durch diese Gesetzesregelungen dazu gezwungen, für extrem niedrige Löhne zu arbeiten und überteuert zu wohnen. Da sich unter Bedingungen der Armut sämtliche Probleme verschärfen – Krankheiten, psychische Störungen, Gewalt und Kriminalität sind die Folge –, wird der »Ausländer« zur Verkörperung eben dieser Phänomene. Der Verweis auf Herkunft oder »fremde Kultur« sorgt dafür, dass nicht über die Ursachen der Probleme gesprochen werden muss, nämlich: Wer und was produziert warum diese Armut? Raul Zelik

Legale gegen illegale Migranten

Wachsender Beliebtheit erfreut sich die Spaltung in »gute« und »illegale« Migranten. Donald Trump beispielsweise wurde – obwohl er im Wahlkampf Migranten als Kriminelle und Drogenhändler beschimpfte – 2024 von fast der Hälfte der eingebürgerten Migranten gewählt. Die Hetze gegen neue, »illegale« Migranten kam bei den alten, »legalisierten« offenbar gut an.

Jens Spahn, Fraktionsvorsitzende der Union, versucht es nun ähnlich. Er legte in der von Kanzler Merz losgetretenen »Stadtbild«-Kampagne – die Bezeichnung »Debatte« verharmlost das politisch kalkulierete Vorgehen der Union – diese Woche nach. Kanzler Merz sei es, so Spahn, mit seiner Aussage »nicht um Hautfarbe« gegangen, »auch nicht um die große Mehrheit der Menschen mit Migrationshintergrund in erster, zweiter, dritter Generation, die mit uns die Zukunft des Landes gestalten wollen. Sondern um Situationen an Hauptbahnhöfen, Marktplätzen, wo wir Verwahrlosung sehen, um Straßenzüge und Stadtteile, wo Juden, Schwule, Frauen sich nicht hintrauen, wo wir steigende Kriminalität haben.« Durchschaubar, aber doch auch geschickt verknüpfte der Unions-Politiker die wachsende Verelendung deutscher Städte mit der Figur des Migranten.

Besonders perfide daran: Spahn tut so, als diene der Angriff auf verarmte oder drogenkranke Menschen zum Schutz anderer ebenfalls von Ausgrenzung oder Rassismus betroffener Gruppen. Nicht die Armut, sondern der Arme soll bekämpft werden – statt Sozialprogramme gibt es mehr Polizei. Raul Zelik

Mieter gegen Mieter

Wohnen wird zunehmend unbezahlbar. Es läge nahe, dafür die Eigentümer der Wohnungen verantwortlich zu machen. Denn sie nutzen die Konkurrenz der Wohnungssuchenden aus, um höhere Mieten zu verlangen. So wollen es Wirtschaftswissenschaftler aber eher nicht betrachten, sie sehen hier lediglich die Naturgesetze von Angebot und Nachfrage am Werk. »Der Nachfrageüberhang schlägt sich unmittelbar in der Mietpreisentwicklung nieder«, so das Münchener Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo).

Die Vermieter sind also unschuldig, sie exekutieren nur das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Schuld für die Unmöglichkeit, eine bezahlbare Wohnung zu finden, trägt laut Ökonomen eher die staatliche Regulierung der Mieten. Denn sie bremst erstens den Anstieg der Wohnungskosten, was für Investoren die Rendite schmälert. Im Ergebnis wird wenig neu gebaut, der Wohnungsmangel bleibt, wofür nicht die Renditeerwartungen verantwortlich gemacht werden, sondern die Mietregulierung.

Da die Mietpreisbremsen für Neuvermietungen weniger streng sind, kommt es zweitens zu einem Auseinanderklaffen von Bestandsmieten – die langsamer steigen – und Angebotsmieten bei Neuvermietungen, die »dynamischer« (Ifo) steigen. Bestandsmieten legten laut Ifo seit 2013 deutschlandweit um durchschnittlich 19 Prozent zu, Angebotsmieten um 50 Prozent – in Berlin sogar um über 100 Prozent. Das Ergebnis ist eine laut Ifo »ausgeprägte Insider-Outsider-Struktur«: »Bestandsmieter profitieren von vergleichsweise stabilen und durch Marktregulierungen gedrosselten Wohnkosten, während Wohnungssuchende mit erheblich höheren Einstiegsmieten konfrontiert werden. Diese Kluft hat sich zu einem zentralen Merkmal der sozialen Frage auf den städtischen Wohnungsmärkten entwickelt.« Stephan Kaufmann

Alte gegen Junge

»Immer weniger Arbeitnehmer müssen immer mehr Renten finanzieren.« Das schrieb der WDR in diesem Sommer – und so wird der angebliche Generationenkonflikt seit vielen Jahren beschworen. Aktuell kritisieren einige Ökonomen und Firmenverbände, dass die Bundesregierung das Rentenniveau bei 48 Prozent stabilisieren will, ohne das Rentenalter weiter anzuheben. »Das Renteneintrittsalter muss steigen, und die Rentenerhöhungen in der Zukunft müssen geringer ausfallen, damit die junge Generation nicht noch stärker belastet wird«, forderte etwa DIW-Präsident Marcel Fratzscher.

Höhere Abgaben sind in dieser Lesart eine Belastung für die Jungen, länger arbeiten dagegen nicht. Denn der Vorschlag würde bedeuten, dass auch die heute Jungen erst später abschlagsfrei in Rente gehen können. Umfragen legen jedoch nahe, dass die meisten das nicht wollen und höhere Beiträge bevorzugen. Wenn das Rentenniveau gesenkt wird, sind es ebenfalls die heute Erwerbstätigen, die im Ruhestand weniger Geld haben.

Junge werden eben auch mal alt. Genau das berücksichtigt eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts IMK. Die Forschenden haben untersucht, welche Folgen das »Rentenpaket II« der Ampel hätte, das den jetzigen Plänen ähnelt. Auch damals waren eine Stabilisierung des Rentenniveaus und langfristig steigende Beitragssätze vorgesehen. Das Ergebnis: Die Pläne verbessern für Menschen aller untersuchten Geburtsjahrgänge zwischen den 1940ern und 2010 die interne Rendite der gesetzlichen Rente. Das heißt: Alle heute Erwerbstätigen und junge Menschen, die kurz vor Eintritt ins Berufsleben stehen, erhalten im Verhältnis zu ihren Beiträgen überproportional mehr Rente. Eva Roth

Existenznot als Arbeitsanreiz

Über Monate hat die Union den Eindruck erweckt, Bürgergeld-Bezieher seien oft arbeitsunwillige »Totalverweigerer«, die auf Kosten anderer leben. »Jeder, der arbeiten kann, muss arbeiten gehen, sonst gibt es keine Sozialleistungen«, forderte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. »Das sind wir den Menschen schuldig, die jeden Tag arbeiten gehen und mit ihren Steuern den Sozialstaat finanzieren.« So werde die »Gerechtigkeit« gestärkt. Die SPD ist der Union gefolgt und ihre Arbeitsministerin hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, der scharfe Sanktionen vorsieht. Wer etwa eine »zumutbare« Arbeit ablehnt oder dreimal vom Jobcenter aufgefordert wird, sich zu melden, und dies nicht tut, soll keine Regelleistung mehr erhalten.

Was Schwarz-Rot nicht sagt: Die Sanktionen richten sich konkret gegen armutsbetroffene Menschen. Denn Anspruch auf Bürgergeld haben nur Personen, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Mitteln bestreiten können. Und die Sozialleistung soll lediglich das Existenzminimum sichern, mehr nicht. Selbst das soll künftig öfter gekappt oder ganz gestrichen werden. So werde Existenznot zum »normalen«  Instrument der Arbeitsmarktpolitik, bilanziert der Ökonom Sebastian Thieme.

Beschäftigte mit geringem und mittlerem Einkommen, die in Stellung gebracht wurden gegen Bürgergeld-Bezieher, haben davon nichts. Ihr Gehalt steigt dadurch nicht. Spürbare Steuerentlastungen sind auch nicht zu erwarten. Selbst das Arbeitsministerium rechnet nur mit minimalen Einsparungen. Unbehelligt bleiben derweil Superreiche, die immer mehr Besitz anhäufen. So ist das Nettovermögen der 20 reichsten Menschen in Deutschland innerhalb eines Jahres laut Nachrichtendienst Bloomberg um rund 57 Milliarden Euro gestiegen. Das entspricht etwa der Summe, die der Staat in einem Jahr für die Existenzsicherung von 5,5 Millionen Menschen aufwendet. Hier sieht die CDU kein Gerechtigkeitsproblem. Eva Roth

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