Der Himmel über der Wüste

»Nostalgia de la Luz« von Patricio Guzmán

  • Ralf Schenk
  • Lesedauer: 3 Min.

Wie von unsichtbarer Hand bewegt, greifen Zahnräder ineinander; an einer riesigen gewölbten Decke öffnet sich eine stählerne Luke und gibt den Blick zum Himmel frei. Es ist ein besonderer Himmel, über der Atacama-Wüste in Chile. Die Planeten scheinen greifbar nahe; und ferne Galaxien, deren Licht viele Jahre braucht, um auf der Erde wahrgenommen zu werden, führen zu den Urtiefen des Universums. In der Atacama-Wüste stehen die besten Observatorien der Welt. Wissenschaftler, die hier tätig sind, gehören zu den Glücklichsten ihrer Profession, sie forschen zugleich an den Toren zur Vergangenheit und zur Zukunft.

Für Patricio Guzmán, den aus Chile stammenden Dokumentaristen, war es nicht nur der faszinierende Blick ins All, der ihn veranlasste, »Nostalgia de la Luz« zu drehen. Sein Werk, soeben mit dem Preis für den besten europäischen Dokumentarfilm geehrt, legt Zusammenhänge und Perspektiven frei, die weit über das rein populärwissenschaftliche astronomische Abenteuer hinausreichen. Guzmán, seit der grandiosen »Schlacht um Chile« (1974-76) ein unbestechlicher Chronist der gesellschaftlichen Wellenbewegungen seiner Heimat, stellt auch diesmal wieder bohrende, unbequeme Fragen: Als dialektischer Aufklärer dringt er unter die Oberfläche der Erscheinungen, insistiert auf Zusammenhänge, die seinem Film eine politische und poetische Dimension verleihen. Wie kommt es, so lautet eine seiner Fragen, dass gleich neben den fantastischen Observatorien so viel Geheimnisse aus jüngerer Menschheitsgeschichte ungelöst bleiben? Die genauen Umstände des Untergangs der indigenen Völker sind noch immer mit Tabus belegt, die Lebensbedingungen der Arbeiter in den Salpeterminen des 19. Jahrhunderts weithin unerforscht. Und dass die Pinochet-Junta in der Atacama-Wüste Konzentrationslager betrieb, Hunderte Leichen im Sand verscharrte oder von hier aus ans Meer transportierte und ins Wasser warf, ist in Chile durchaus nicht allgemein bekannt.

Guzmán holt Zeitzeugen vor die Kamera: Miguel, der fünf Konzentrationslager überlebte, sich ihre Grundrisse ins Gedächtnis einbrannte und im Exil präzise Zeichnungen davon anfertigte: ein Akt wider das Verdrängen. Gaspar, der junge, in Deutschland geborene Chilene und Astronom, der neben den Himmelsbeobachtungen auch die jüngste Geschichte seines Landes analysiert. Und Victoria und Violeta, deren Angehörige in der Wüste verscharrt wurden und die seit Jahrzehnten nach Überresten graben. »Sie werden nie in Frieden schlafen, ehe sie nicht die Spuren der Vergangenheit gefunden haben, nach denen sie suchen«, resümiert der junge Sternforscher, der sehr wohl begriffen hat, dass die Suche der Frauen, die mit bloßen Händen in der Erde wühlen, sehr wohl auch seiner Arbeit ähnelt.

»Nostalgia de la Luz« mäandert durch Zeit- und Weltgeschichte, wobei Guzmán seinen philosophischen Exkurs immer aus dem visuellen Material, den metaphorisch verdichteten Bildern entwickelt. Der Regisseur, der für die historischen Teile seines Films auch auf Überlieferungen der DDR-Dokumentaristen Heynowski und Scheumann zurückgriff, entwirft ein »dichtes Gewirr von Fäden«, wie er sagt: »metaphysisch, mystisch und spirituell, astronomisch, ethnografisch und politisch«. Manche Fragen bleiben wie Wunden: Wie kann es sein, dass in Chile das weltweit größte astronomische Forschungszentrum betrieben wird, während rund sechzig Prozent der unter Pinochet verübten Morde unaufgeklärt sind? Wer schützt die Täter, und warum wird den grabenden Frauen von einem Großteil der Gesellschaft entgegengehalten, es sei genug? Guzmáns Kamera zeigt dagegen den Schmerz im Gesicht einer dieser Frauen, wenn sie berichtet, wie sie Körperteile ihres Bruders im Sand gefunden hat: einen Fuß, der noch in dem Schuh steckte, den der Bruder damals trug, oder ein Teil des Ohres, mit Spuren einer Pistolenkugel.

Nichts darf, nichts kann vergessen sein, lautet die Botschaft dieses Films. Alles wird im Gedächtnis der Menschheit, ja des Universums gespeichert. Das Kalzium in unseren Knochen war bereits mit dem Urknall vorhanden. Und es wird bleiben, so oder so, bis zum Ende aller Tage.

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