Die Rückkehr der Geschichte

David North über Wikileaks, Barack Obama und Leo Trotzki, die Krise und die permanente Revolution

  • Lesedauer: 11 Min.

ND: Herr North, lassen Sie uns zunächst über den Aufreger dieses Jahres, die Enthüllungen von Wikileaks und Julian Assange sprechen. Sind Sie, US-Bürger und Journalist, empört über den Verrat von Staatsgeheimnissen?
North: Nein. Meiner Ansicht nach hat Julian Assange meinem Land und der ganzen Welt einen großen Dienst erwiesen. Er tut das, was eigentlich die Aufgabe investigativer Journalisten ist: die öffentliche Aufmerksamkeit auf geheime, unredliche Aktivitäten der Regierungen zu lenken. Die Verleumdungskampagne gegen Wikileaks und gegen Julian Assange hat kriminellen Charakter. Es gibt Leute in den USA, die offen zu seiner Ermordung aufrufen. Die Anschuldigung, die gegen ihn in Schweden erhoben wurde, ist ein Vorwand. Jedes Mittel scheint recht, um ihn und WikiLeaks mundtot zu machen.

Wikileaks hat das Imperium ins Herz getroffen, es schlägt jetzt brutal zurück?
So ist es. Nicht Julian Assange ist kriminell, wie behauptet wird, sondern umgekehrt: Diejenigen, die sich über ihn empören, sind kriminell. Wikileaks legt ihre Machenschaften offen. Die ins Netz gestellten Dokumente belegen die große Lüge, auf der die Politik der USA im letzten Jahrzehnt basiert. Und die zum Tod von Hunderttausenden Menschen geführt hat. Die US-Regierung behauptet, Julian Assange habe Blut an seinen Händen, weil er Geheimdokumente veröffentlicht, die Menschenleben gefährde. Was hat Julian Assange getan? Er hat mörderische Aktivitäten der US-Militärs gegen afghanische und irakische Zivilisten, grauenhafte Folterpraktiken und die Entsendung von Todesschwadronen in alle Ecken der Welt durch die US-Administration publik gemacht. Die eigentlichen Kriminellen sitzen im Pentagon und im State Department.

Verfolgt werden sollten also Leute wie Bush, Rumsfeld und Cheney, nicht Julian Assange.
So ist es. Auf Versammlungen und Kundgebungen in den letzten Jahren fragte ich meine Zuhörer: Was war der Hauptgrund für die Eröffnung des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg 1945 gegen die Führer des »Dritten Reiches«? Die meisten sagten: Das war die Ermordung der Juden.

Das den Nürnberger Prozessen zugrunde liegende Statut bestimmte die »Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben«.
Richtig. Angeklagt wurde die Führung eines Angriffskrieges, die Nutzung des Krieges als ein Instrument staatlicher Politik. Von diesem Verbrechen leiteten sich alle anderen Verbrechen ab. Darauf verwies explizit der Hauptankläger der USA, Robert H. Jackson. Als »Verbrechen gegen den Frieden« wurde die Planung, Einleitung und Durchführung eines Angriffskriegs definiert, als »Verbrechen gegen die Menschheit« Aktivitäten abseits der Kriegshandlungen gegen die Zivilbevölkerung. Also das, was in Afghanistan und Irak geschah und geschieht. Die Invasionen in Afghanistan und Irak waren politisch illegal und sind Verbrechen.

Und dies zu enthüllen, ist Jedermanns Recht.
Man versucht, ein Exempel an Julian Assange zu statuieren. Ich weiß nicht, ob es in Europa auch so ist, aber in den USA sind die etablierten Medien fast völlig staatlich kontrolliert. Vor 40 oder 50 Jahren war es ungewöhnlich oder wurde zumindest als ungewöhnlich betrachtet, wenn eine Zeitung auf Bitte der Regierung Informationen zurückhielt. Jetzt ist es normal. Die »New York Times« konsultiert sich regelmäßig mit dem State Department, mit dem Weißen Haus, mit der CIA. Man stimmt miteinander ab, was veröffentlicht werden darf und was nicht. Julian Assange hat etwas getan, was die Medien tun müssten, jedoch nicht taten.

Die Internetszene ergreift Partei für Julian Assange, unter anderem mit Hacker-Angriffen. Wird ihm das helfen oder eher schaden?
Das ist eine neue, respektable Form des Protestes. Wir rufen auf unserer Website auch zu internationaler Solidarität mit Julian Assange auf. Wir fühlen uns sehr betroffen von der Attacke auf Wikileaks und deren Gründer. Denn sie sind nur ein Vorspiel für weitere, breitere Angriffe auf demokratische Rechte und Freiheiten.

Auch namhafte Journalisten meinen, Wikileaks ginge zu weit.
Die rasante Entwicklung des Internets wird von den etablierten Medien als starke Konkurrenz angesehen. Sie haben nicht mehr das Meinungsmonopol, können die Menschen nicht mehr nach ihrem und der Herrschenden Gustus manipulieren. Da sind viele andere Stimmen im weltweiten Netz, so auch unsere World Socialist Web Site, wsws.org. Das ärgert sie und so finden sie sich zum Schulterschluss mit jenen bereit, die Julian Assange einen Terroristen schimpfen, der die nationale Sicherheit gefährde.

Ist das Internet die Agora des 21. Jahrhunderts? Mit dem kleinen Unterschied, dass auf diesem virtuellen Versammlungsplatz um ein Vielfaches mehr Menschen und rund um den Globus miteinander diskutieren können als auf der Agora der antiken Polis.
Es bietet einem größerem Publikum eine immens größere Vielfalt von Informationen, Gedanken, Meinungen und politischen Standpunkten als je zuvor. Es kann das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse wiedererwecken, befördern und stärken.

Gibt's die denn noch?
Aber natürlich. Das ist das große Dilemma der »modernen Linken«, auch der Linkspartei in Deutschland, dass sie sich von den marxistischen Kategorien verabschiedet hat, nur noch von Gender, Sexualität, Ethnizität, Nationalität etc. spricht. Das sind Begriffe des Kleinbürgertums. Arbeiterklasse gibt es in China und Indien, in Deutschland und in den USA.

Zurück zur virtuellen Agora. An den öffentlichen Pranger kommen hier auch die Banker und Spekulanten, die Staaten an den Rand des Bankrotts trieben.
Die vor zwei Jahren ausgebrochene globale ökonomische Krise ist nicht nur normalen Widersprüchen des kapitalistischen Systems geschuldet, sondern sehr stark verbunden mit den veränderten sozialen Beziehungen, mit dem Erscheinen einer neuen Aristokratie, die eine fast unumschränkte Machtfülle und einen unvorstellbaren Wohlstand genießt, vergleichbar jenen der Aristokraten vor 1789. Und wie diese auf die damalige Finanzkrise in Frankreich reagierte, verhindert auch die neue Aristokratie vernünftige Lösungen. Jene, die die Krise verursacht haben, nutzen sie, um noch reicher und mächtiger zu werden. Die ökonomische Krise dient als Rechtfertigung für bis dahin noch nicht da gewesene Angriffe auf die sozialen Rechte der Arbeiterklasse in den USA, in Europa, weltweit. Aber warum sollen die Arbeiter in Irland die von ihnen nicht verursachte Krise bezahlen? Warum die in Griechenland, in den USA ...

Barack Obama will auch die Banker zur Rechenschaft ziehen.
Das ist eine der typischen Illusionen, die Sie in Europa über Barack Obama hegen: Er habe den Bankern die Leviten gelesen. Obama ist ein Medienphänomen. Er ist nicht das, als was er vielen erscheint. Obama ist ein konservativer, bourgeoiser Politiker. Obamas Politik wird wie die seines Vorgängers von den Interessen der Konzern- und Finanzaristokratie bestimmt. Die Lage der großen Mehrheit der Afroamerikaner ist heute schlimmer als vor 40 Jahren, die Bedingungen der Erwerbstätigkeit für Frauen sind auf den Stand von vor 40 Jahren zurückgeworfen, generell haben sich die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter verschlechtert.

Aber seine Gesundheitsreform ...
Wieder eine Illusion,die auf falschen Berichten basiert. Man sollte sich nicht von den Schlagzeilen in den Zeitungen irreführen lassen. Weshalb wurde diese Gesundheitsreform in Angriff genommen? Doch nur, um die Kosten des Gesundheitssystems zu senken. Dies wird als ein wesentlicher Faktor zur Senkung des Haushaltsdefizits angesehen. Die »New York Times«, die Obamas Gesundheitsreform euphorisch begrüßte, schreibt zu gleicher Zeit: Frauen brauchen vor dem 50. Lebensjahr keine Mammografie. Die Reform schränkt die Verfügbarkeit von prophylaktischen Maßnahmen gravierend ein. Vorbeugeuntersuchungen, die der Erhöhung der Lebenserwartung dienen, sollen nicht mehr gefördert werden.

Aber Millionen US-Amerikaner, die bisher ganz außen vor standen, sollen jetzt in den Genuss medizinischer Versorgung gelangen. Das ist doch ein Fortschritt?
Für die 40 Millionen bisher nicht Versicherten ein kleiner Fortschritt. Die Verluste hingegen sind riesig. Und das wurde begriffen. Das erklärt die feindselige Reaktion großer Teile der Bevölkerung auf diese Gesundheitsreform. Die Leute spüren, dass es nur darum geht, die Einschnitte bei der medizinischen Vorsorge und Versorgung zu rechtfertigen. In zwei, drei Jahre werden Sie in Europa Artikel über die Kastration, die katastrophalen Folgen der Gesundheitsreform von Obama schreiben und beklagen, dass dies niemand vorhergesehen habe.

Kastration haben wir hier auch. Aber: Obama ist in einer schwierigen Situation angetreten. Die Krise schränkt auch ihn ein.
Ach was. Wissen Sie, dass die Obama-Regierung in die Insolvenz von General Motors intervenierte?

Ja, denn ein deutscher Automobilkonzern, Opel, hing mit drin, im großen Kladderadatsch.
Wissen Sie, dass Obama die Löhne der Arbeiter beschnitten, von 28 Dollar in der Stunde auf 14 Dollar reduziert und die Altersversorgung gestrichen hat? Ich könnte Ihnen noch viele weitere Beispiele aufzählen, die Ihnen die Illusionen über Obama austreiben würden. Obama ist ein Medienhype. Interessant ist: Was er tut, wird bejubelt oder zumindest akzeptiert. Hätte Bush das Gleiche getan, hätte man das verwerflich genannt.

Auch Obama zieht keine ernsthaften Konsequenzen aus der Krise. Niemand tut dies. Über die Beschreibung der Krisensymptome und ihrer Auslöser – »faule Wertpapiere«, »böse Hedgefonds« etc. – wagt man sich nicht hinaus. Denn das kapitalistische System darf nicht in Frage gestellt werden.

Sie aber tun es?
Natürlich. Die Krise geht auf Widersprüche zurück, die in der sozioökonomischen DNA der kapitalistischen Produktionsweise angelegt sind. Marx warnte vor dem »Wegphantasierenwollen der Widersprüche«, die nach dem »frommen Wunsch« der Apologeten des Kapitalismus nicht existieren. Sie existieren dennoch.

Es wird suggeriert, das kapitalistische System sei selbst Opfer – von skrupellosen Börsianern und gierigen Managern. Es werden subjektive Ursache angeführt: Raffgier, Fehlkalkulationen. Doch es handelt sich um objektive, im System verwurzelte. Die regelmäßig wiederkehrenden wirtschaftlichen Katastrophen sind keine unglücklichen Zufälle. Seit den 80er Jahren brach etwa alle fünf Jahre ein wirtschaftliches Desaster über uns herein. Die politökonomische Analyse ist auf den Hund gekommen. Spätere Generationen werden den Crash von 2008 als Ergebnis eines Niedergangs und Zerfalls werten, der 1971 begann.

1971?
Ja. Die USA verdanken ihren Aufstieg der Selbstzerstörung der Alten Welt in zwei Weltkriegen und deren Erschütterungen durch Revolutionen, vor allem der russischen im Oktober 1917. Sie übernahmen den Wiederaufbau des europäischen Kapitalismus. Das Bretton-Woods-Abkommen von 1944 legte das Fundament für eine neue Weltwirtschaft und ein neues Weltwährungssystem. Doch Präsident Nixon kündigte es 1971 auf, was die Anfälligkeit des Systems beförderte und – Ironie der Geschichte – die USA nicht rettete, sondern deren Stellung untergrub.

Was für ein Aufstieg in den Jahren 1911 bis 1961! Und was für Gestalten waren noch Woodrow Wilson, Franklin D. Roosevelt und John F. Kennedy. Verglichen mit den die USA in den letzten 50 Jahren Regierenden. In die letzten 50 Jahre fallen die Morde an zwei Kennedys, an Martin Luther King, an Malcolm X. Jede republikanische Regierung, beginnend mit Nixon, war kriminell, jede demokratische Regierung seither komplett ineffizient.

Sie meinen, die Krise hat ihren Ursprung 1971? Und ist Ausdruck des Niedergang der USA ...
... der globalen Stellung der USA. Die jetzige Krise ist aber auch Indiz für den Niedergang des weltweiten Kapitalismus. Es wird zur Wiederbelebung der Arbeiterbewegung kommen, zu neuen Klassenkämpfen. Es wird sich zeigen, dass Marx und Engels Recht hatten: »Alle bisherige Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen.« Wir werden eine Rückkehr der Geschichte erleben.

Deren Ende vor 20 Jahren verkündet worden ist?
Ich war in Ostdeutschland, als die DDR kollabierte. Mein Eindruck: Es gab große Sehnsucht nach Kapitalismus, weil es große Illusionen über diesen gab. Die DDR-Bevölkerung ist von ihrer Regierung belogen und betrogen worden und hat sich nun wieder belügen und betrügen lassen. Weil es an Verständnis für historisches Geschehen und Perspektiven mangelt. Selbst das eigene Erlebnis, das man gerade machte, vermochte man nicht einzuordnen. Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums wurde als endgültiger Beweis für die Unmöglichkeit von Sozialismus interpretiert. Dabei handelte es sich nur um die Implosion stalinistischer Regime. Warum wird heute nicht ebenso die Weltwirtschaftskrise als Scheitern des Kapitalismus gedeutet?

Das Gespräch begann mit einer Verteidigung von Wikileaks und Julian Assange. Sie haben eine »Verteidigung Leo Trotzkis« vorgelegt. Sind Sie ein Verteidiger?
Ich verteidige jeden, der es verdient. Leo Trotzki, der letzte Vertreter des klassischen Marxismus, war Ziel bösartiger Lügen und Verleumdungen der Stalinisten. Er wird noch heute in Russland totgeschwiegen. Und auch westliche Autoren diffamieren ihn, verfälschen sein Leben und Werk übelst.

Warum aber? Er gehört doch der Geschichte an.
Irrtum. Eben nicht. Was er schrieb, seine Analysen und Voraussagen sind hochaktuell.

Seine Theorie der permanenten Revolution auch?
Ja, im Gegensatz zu Bucharin und Stalin, war er nicht der Meinung, dass Sozialismus in einem Land möglich ist. Schon 1905 schrieb Trotzki, dass »der Kapitalismus die gesamte Welt in einen einzigen ökonomischen und politischen Organismus verwandelt hat«. Daher kann auch die Emanzipation der Ausgebeuteten nur international gelingen. Revolution muss in der modernen Epoche als ein welthistorischer Prozess aufgefasst werden, auf der Grundlage einer globalen Wirtschaft und vereinten Menschheit .

Und heute auch vernetzte Menschheit. Die Weltrevolution kommt via Internet. Herzlichen Dank für das Gespräch.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal