Haben die Ehre...die Toten sind schuld

Im März ertranken beim NATO-Manöver »Strong Resolve« zwei deutsche Matrosen, danach begann das große Vertuschen

  • René Heilig
  • Lesedauer: 7 Min.
»Strong Resolve« war der größte Militäraufmarsch seit zehn Jahren. 160 Flugzeuge, 139 Schiffe von 13 NATO- und anderen Alliierten nahmen teil. 40000 Soldaten bot man auf - einer von ihnen liegt nun auf einem Friedhof bei Potsdam, ein zweiter auf dem Gottesacker des Dörfchens Cappel in Nordrhein-Westfalen. Selbst schuld, sagt die verantwortliche deutsche Marine. Und lügt damit.
Zwei im März in der Ostsee ertrunkene Marinesoldaten haben ihren Tod selbst verschuldet, weil sie ihre Schwimmwesten nachlässig angelegt hatten. Zu diesem Ergebnis kommen Untersuchungen der Staatsanwaltschaft Oldenburg sowie der Bundeswehr und des britischen Militärs.« Diese Nachricht verbreitete dpa vor einigen Wochen. Sie war, wie sich nun an Hand des internen Untersuchungsberichts nachweisen lässt, eine Lüge. An die sich eine Reihe weiterer Unwahrheiten und Verdrehungen anknüpft. Die deutsche Marine bezahlt einen Kapitän zur See Ingo Splettstösser. Der verkündete weisungsgemäß gegenüber dpa und jedem anderen, der fragte, dass es »keine Chance auf Rettung« gegeben habe, die Bergungsaktion »vorbildlich« abgelaufen sei und der britischen Marine »keine Vorwürfe« zu machen seien. Aber er wusste es besser. Splettstösser war Mitglied jener fünfköpfigen britisch-deutschen Untersuchungskommission, die »die Umstände im Zusammenhang mit dem fatalen Seeschiffsunglück..., das sich am 6. März 2002 neben der HMS Cumberland ereignete«, bewertete (HMS - her majestys ship, Schiff ihrer Majestät). Der Bericht beginnt »very british« mit der Formel: »Wir haben die Ehre... Ihre gehorsamen Diener zu sein«. Die 34 Seiten sind umständlich und natürlich fachlich gehalten. Sie sind dennoch unschwer als Aufzählung von Schlampereien sowie menschlichen wie technischen Unzulänglichkeiten zu werten. Drei Schiffe, die HMS Cumberland (CUMB), die HMS Edinburgh (EDIN) und die deutsche Fregatte Mecklenburg-Vorpommern (MECK) waren beteiligt. Nebst militärischer Ertüchtigung hatte die NATO auch die menschliche Seite im Programm. So kam es, dass drei Besatzungsmitglieder der Mecklenburg-Vorpommern zum Besuch auf die Cumberland eingeladen worden waren. Im Untersuchungsbericht ist festgehalten: »Wegen noch schlechterer Wetter-Erwartung wurde der Rücktransport der drei deutschen Soldaten Unteroffizier Paul, Unteroffizier Nieschwitz und Matrose Scheffelmeier von 16.30 auf 14.45 Uhr vorverlegt. Die Wetterbedingungen zu dieser Zeit: Wind: aus südwestlicher Richtung, 30-35 Knoten (Windstärke 7); Seegang: 4-5; Sicht: 2 nautische Meilen, Lufttemperatur: 4,5 Grad C; Wassertemperatur: 3 Grad C.« Sturmtief Anna schickte Vorboten. Bei dieser Kälte vermag der menschliche Organismus nur wenige Minuten Widerstand zu leisten. Das Unglück geschah um 14.51 Uhr. Das leichte Übersetzboot vom Typ Pacific22 kenterte, kaum dass man von der Cumberland abgelegt hatte. Die drei deutschen Seeleute und die beiden britischen Kameraden schwammen in der eiskalten, aufgewühlten See. Bootsführer Ireson war unter dem Rumpf gefangen, konnte sich aber befreien. Der Kommandant der Cumberland war nicht an Bord, sondern mit dem Hubschrauber zu einer Besprechung aufs US-Manöver-Flaggschiff geflogen. Er hatte sein Schiff verlassen, obwohl »über eine formelle Übertragung der Exekutivfunktionen nicht gesprochen« worden war. So steht es im Bericht. Auf der Brücke der Cumberland tat ein Offizier Dienst, dem noch gar keine »Brückenführungserlaubnis erteilt worden« war. So wie er versagten auch zahlreiche technische Mann-über-Bord-Regularien. Das Manövrieren des großen Kriegsschiffes erwies sich ohnehin als kompliziert, weil es nur von einer der beiden Schrauben angetrieben wurde. Die Backbordwelle lief leer. Hauptgrund sei »der sparsame Umgang mit Treibstoff gewesen, weil in der Übung keine Tanker zur Unterstützung eingesetzt wurden. Welche Befehle auf der Brücke der Cumberland wie gegeben und dann wie ausgeführt wurden, ist nicht mehr rekonstruierbar. Das eigentlich mitlaufende Recorderband war - welch Zufall - unsachgemäß behandelt worden. Die Cumberland drehte schwerfällig. Währenddessen informierte man die beiden anderen Schiffe. Beide fragten an, ob sie Rettungsboote schicken sollten. Die »CUMB nahm das Angebot an« und die »EDIN entsandte ihren Searider«. Die »MECK hielt sich durch die Nähe« - es waren nach Aussagen von Besatzungsmitgliedern 300 Meter - »zu den anderen Schiffen für zu beschränkt und nicht hinreichend manövrierfähig, um ihren Cutter zu entsenden. Dieses zusätzliche Einsatzmittel hätte sich zweifellos ausgewirkt.« Lebensrettend, wie der Bericht damit durchblicken lassen will. Die wahren Gründe für die Untätigkeit der Mecklenburg-Vorpommern scheinen mit der geringen Distanz nichts zu tun zu haben. Auf dem deutschen Kriegsschiff »war das Schnellboot auf der Backbordseite wegen eines defekten Kranes längere Zeit außer Betrieb gewesen«. An anderer Stelle hält der Bericht fest, »dass sein erstes Boot wegen eines schon lange bekannten Mangels der Davits nicht verfügbar war«. Es fehlte angeblich der TÜV-Stempel. Wut habe sich auf der Fregatte breit gemacht, wird unter der Hand berichtet. Es ist zu vermuten, dass hier auch die Ursachen dafür liegen, dass das deutsche Schiff sofort aus der Übung herausgelöst wurde. Ein Arzt hat die Besatzung »als psychologisch nicht mehr belastbar« eingestuft, der Kommandant, Fregattenkapitän Frank Menge, bat um Ablösung. Zurück zur Rettungsaktion. Man barg zunächst Unteroffizier Paul. Um 15.14 Uhr hatte man ihn an Bord der Cumberland, doch nach 15-minütigen Wiederbelebungsversuchen gab man die Bemühungen auf. Obermatrosin Sharp und der deutsche Seemann Nieschwitz konnten ein herabgelassenes Tau greifen. Scheffelmeier, ein sportlicher und vom Surfen trainierter junger Mann, trieb derweil »rasch um den Bug herum windaufwärts von der CUMB. Die Entfernung begann sich rasch zu vergrößern, da das Schiff weiter mit dem Wind trieb.« Doch das hatte auf der Brücke der Fregatte niemand bemerkt. Es waren nicht einmal spezielle Ausgucks eingeteilt. Gegen 15.15 Uhr traf ein in der Nähe übender britischer Merlin-Hubschrauber am Unglücksort ein, zwei Minuten später wurde ein Besatzungsmitglied zu dem Verunglückten Samuel Scheffelmeier hinabgelassen, doch der so genannte Stropp, also die Seilschlaufe, in die er den Schwimmenden hängen wollte, um ihn zum Hubschrauber empor zu ziehen, passte nicht über die deutsche Schwimmweste. Erst als der Hubschraubermann ein zweites Mal hinabgelassen wurde, konnte er den Hilflosen einhaken. Im Hubschrauber sah man, dass der Gerettete »sehr blau war und seine Atemwege blockiert waren... Scheffelmeier erbrach sich zweimal... um 15.33 Uhr landete der Helikopter auf der Cumberland...« Fazit der Experten: Matrose Scheffelmeier war noch 15 Minuten nach dem Kälteschock in der Lage, mit dem Rettungsschwimmer und LS Sharp zu kommunizieren. Er wurde sogar noch dabei gesehen, wie er rief und winkte, als er ungefähr 20 Minuten nach dem Eintauchen erstmals abseits des Backbordbugs gesichtet wurde. »Wäre er in diesem Zustand geborgen worden, ist es wahrscheinlich, dass er überlebt hätte.« Splettstösser teilte der Öffentlichkeit mit, die gesamte Rettungsaktion habe nur 17 Minuten gedauert. Nachweisbar ist inzwischen, dass man einfach 20 offenbar entscheidende Minuten verschweigt. Ein Marinehubschrauber SAR Seaking war zu einem routinemäßigen Trainingsflug etwa 15 Minuten südlich unterwegs. »Traurigerweise wurde er über das Unglück nicht informiert.« Der wohl schwerwiegendste Punkt jedoch ist die mangelnde Bekleidung der deutschen Marinesoldaten. Hätten die Deutschen die gleiche Schutzbekleidung wie ihre englischen Kameraden getragen, nämlich Multifaseranzüge, die einen »exzellenten Schutz« gegen die nasse Kälte boten, wären Todesopfer zu vermeiden gewesen. Zitat zur Situation der beiden geretteten britischen Matrosen: »Sharp war erschüttert, aber ansonsten in gutem Zustand.« Ireson »war in relativ gutem Zustand und benötigte nur eine heiße Dusche und heiße süße Getränke«. Auch was nach dem Unglück ablief, kann nur als Skandal gewertet werden. Ein Militärpfarrer versuchte Familie Scheffelmeier zu trösten, die Marine habe sich jederzeit fürsorglich um Samuel, genannt »Sammy«, gekümmert. Man muss zweifeln, dass das Notfalltraining der Bundesmarine fürsorglich zu nennen ist. Nicht einmal die Hälfte einer deutschen Fregattenbesatzung lernt im Trainingszentrum der Marine, wie man eine Schwimmweste anzulegen hat und seine Rettung unterstützt. Trotzdem versucht die Marine noch immer, der Familie Scheffelmeier Sammys Tod als Schicksal zu verkaufen. Die Lügerei paart sich mit Zynismus, wenn der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Willfried Penner, schreibt: »Ihr Sohn Samuel hat erfahren müssen, dass auch Manöver sehr gefährlich sein können.« Penner hofft, die Scheffelmeiers werden »Menschen finden, die Sie in Ihrem Kummer und Schmerz nicht alleine lassen«. Verteidigungsminister Rudolf Scharping fügte seiner computergedruckten Kondolenz handschriftlich hinzu: »Wenn ich Ihnen und Ihrer Familie in irgendeiner Weise helfen kann, lassen Sie es mich bitte wissen.« Mit der Wahrheit wäre »Sammys« Eltern, seiner Schwester und seiner Freundin, mit der er seit Jahren im elterlichen Haus zusammen wohnte, schon gedient. Briefe, in denen der Vater Hilflosigkeit und Wut zu formulieren versucht, werden nicht beantwortet: Scharping schweigt, sein Generalinspekteur Kujat hält Antworten für überflüssig, Penner schickt inzwischen einen Adlatus mit hohlen Zwischenbescheiden vor. Die Staatsanwaltschaft in Rostock hat eilig die Akten geschlossen. Vermutlich ist Untätigkeit oberstes Ermittlungsprinzip, wenn die Bundesmarine im Spiel ist. Die Staatsanwaltskollegen in Stralsund lehnen es ja auch ab, den Tod dreier Fischer aufzuklären, die mit ihrem Kutter »Beluga« vor drei Jahren vermutlich im gleichen Seegebiet von übenden Kriegsschiffen überrollt worden waren. Nachzutragen wäre noch: Die Cumberland gehört inzwischen zur Task Force150, die angeblich vor der Küste Somalias unter deutschem Kommando bin Ladens Terroristen jagen soll. Die Mecklenburg-Vorpommern ist mit einer zweiten deutschen Fregatte auf einer Weltreise, die sie bis nach Japan führt. Sie soll unter anderem beim Freundschaftsbesuch auf den Philippinen Erfahrungen in kommenden Einsatzräumen sammeln.
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