Die Liebe in der Erinnerung

Buddhadeva Bose und die Geschichten einer Nacht

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Dezembernacht ist kalt in Tundola, einer kleinen Stadt in der bengalischen Provinz. Ein Beamter, ein Bauunternehmer, ein Arzt und ein Schriftsteller sitzen im Warteraum des örtlichen Bahnhofs und warten auf den Morgen. Vor ihnen auf der Strecke ist ein Güterzug entgleist und verhindert die Weiterfahrt. Da sieht ein junges Paar zur Tür herein, verschwindet aber gleich wieder. Doch der kurze Augenblick hat gereicht, um die vier Männer an die eigene erste Liebe zu erinnern. Weil an Schlaf nicht zu denken ist, beginnen sie sich davon zu erzählen.

Für den Anfang seines Romans mit dem etwas kitschigen Titel »Das Mädchen meines Herzens« hat der bengalische Autor Buddhadeva Bose eine klassische Rahmenhandlung gewählt. Doch Bose, der 1908 im ostbengalischen Komilla geboren wurde und 1974 in Kalkutta gestorben ist, gilt nur in Bengalen als Klassiker. Im Westen kennt ihn so gut wie niemand. »Das Mädchen meines Herzens« ist die erste deutsche Veröffentlichung aus dem Werk des Autors.

Bose blieb, wie die Übersetzerin Hanne-Ruth Thompson im Nachwort des Romans sagt, nicht nur weil er auf Bengalisch schrieb außerhalb Bengalens unbekannt, sondern ebenso wegen seines berühmten Landsmannes Rabindranath Tagore, dem Literaturnobelpreisträger von 1913, der in der westlichen Rezeption noch immer als der bengalische Schriftsteller schlechthin gilt. In seinem Schatten hatten es andere Autoren schwer. Dabei hat Bose eine bedeutende Rolle für die Modernisierung der Literatur seiner Heimat gespielt, hat Beaudelaire, Rilke und Hölderlin ins Bengalische übersetzt.

Der Roman hat zeitlosen Charakter, wie die Liebesgeschichten Turgenjews, an die er erinnert. Der Schriftsteller erzählt von drei Freunden, die sich alle in dasselbe Mädchen verlieben; der Arzt von einer Patientin, die an der unerwiderten Liebe zu einem anderen leidet und dann später seine Frau wird; der Bauunternehmer verliebt sich unglücklich in die schöne und gebildete Tochter des Nachbarn und der Beamte berichtet von der Liebe zu einem Mädchen, dass auch ihn liebt, dann aber einen anderen heiratet. Es kommt einem bekannt vor, aber man erfährt es hier neu, weil es Bose gelingt, seine Figuren und seine Geschichten aus dem fernen Bengalen auch für ein westliches Verständnis lebendig und überzeugend zu erzählen.

Am Ende ist hier wie dort das Entscheidende die Erinnerung. Die Erinnerung an ein Gefühl, dass es danach so nicht mehr gegeben hat. »Dann ist also alles nur Illusion?», fragt der Bauunternehmer und meint die große Liebe. »Die Erinnerung bleibt«, antwortet der Schriftsteller. »Sie ist das Einzige, was einem bis zum Ende bleibt.«

Am Morgen fährt der Zug weiter. Jeder der Passagiere, die sich eben noch eine wichtige Episode aus ihrem Leben erzählt haben, setzt sich in ein anderes Abteil. Wahrscheinlich werden sie sich nie wieder sehen. Es ist die Anonymität, die die Männer offen erzählen ließ, ermöglicht durch die zufällige Begegnung einer Nacht. Offenheit aber ist für jede gute Erzählung wichtig.

Eine Kunst, die Buddhadeva Bose beherrscht, dem Autor dieser mit leichter Hand erzählten Liebesgeschichten.

Buddhadeva Bose: Das Mädchen meines Herzens. Roman. Aus dem Bengalischen von Hanne-Ruth Thompson. Ullstein Verlag. 184 S., geb., 18 €.

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