Eine verdiente Bürgerin

Wenn Medizinstudenten wie Lea Jacob zu Lebensrettern werden

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 8 Min.
Lea Jacob in der Bibliothek der Medizinischen Fakultät Magdeburg. Rechts neben ihr Marija Maksimenko und Allaa Noaman, Studenten im zweiten Studienjahr
Lea Jacob in der Bibliothek der Medizinischen Fakultät Magdeburg. Rechts neben ihr Marija Maksimenko und Allaa Noaman, Studenten im zweiten Studienjahr

Es kommt nicht oft vor, dass ein Bundespräsident beim traditionellen Neujahresempfang, den er für »verdiente Bürger« ausrichtet, einer 26-Jährigen die Hand schüttelt. In aller Regel stehen auf seiner Gästeliste doch etwas reifere Damen und Herren, die bereits auf ein Lebenswerk im Ehrenamt zurückblicken, für das sie auf Vorschlag ihrer Vereine abschließend gewürdigt werden. Und das ist gut so, das ist richtig. Der Bürger – jemand, der sich einbringt. Das Lebenswerk – keine Momentaufnahme. Ein Beharren, das der Allgemeinheit nützt, ein stetiges Trotzdem, Trotzalledem, Trutz wider Ermüdung und Enttäuschung, oft wider die Verhältnisse.

So gesehen war Lea Jacob an diesem Januartag im Schloss Bellevue eine Ausnahmeerscheinung. Eine Ausnahme auch die Leistung, die sie auf die Liste katapultierte: Sie rettete einem Menschen das Leben. Zwar begab sie sich dabei nicht in Gefahr, dennoch hat sie Mut bewiesen – der Mann, für den sie sich einsetzte, weilte in Deutschland als »Illegaler«. Viel Sympathie bei der Allgemeinheit dürfte sie mit ihrem Eingreifen somit nicht erworben haben.

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Lea Jacob studiert an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg Medizin. 2009 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern des Vereins medinetz Magdeburg e.V. – solche Netzwerke gab es bereits in mehreren Städten der Republik, unter anderem in Berlin, Bielefeld, Bochum, Hamburg, Halle, Göttingen, Bremen, Heidelberg, Rostock. Von Studenten und Ärzten geknüpft, versuchen sie, Menschen aufzufangen, denen medizinische Hilfe aus verschiedenen Gründen versagt bleibt. Dabei handelt es sich um Männer, Frauen, Kinder, die in Not geraten sind. Das können Hartz IV-Betroffene sein, die kein Geld für die Praxisgebühr und Medikamente zurückgelegt haben. Oder Menschen ohne Versicherung – oft einst Privatversicherte, die ihre Beiträge nicht mehr zahlen konnten und kaum eine Chance haben, bei den gesetzlichen Kassen unterzukommen. In der überwiegenden Mehrzahl jedoch handelt es sich um Menschen ohne Papiere – Schätzungen gehen davon aus, dass 500 000 bis eine Million »Unsichtbare« in Deutschland leben. Sie leben hier mit der ständigen Angst, entdeckt und ausgewiesen zu werden, weshalb sie, wenn sie krank werden, fürchten, einen Arzt aufzusuchen, oder sich erst dazu durchringen, wenn es für sie fast zu spät ist.

Und dies geschah vor einem Jahr: In der Kontaktstelle des Vereins erschien ein schwer herzkranker Vietnamese. Wir werden ihn kurz »den Mann« nennen, denn Namen sind hier Schall und Rauch. Der Mann brach zusammen, woraufhin Lea Jacob veranlasste, dass der Notarzt ihn in die Uniklinik brachte. Sie war zu diesem Zeitpunkt hochschwanger, bald würde Ronja zur Welt kommen – ebenfalls in der Uniklinik. Nach der Entbindung erfuhr sie dort von ihrer Studienkollegin Miriam Klimak, ebenfalls Mitglied bei medinetz, die gerade in der Kardiologie als medizinische Hilfskraft arbeitete, dass man den Mann nur »konventionell«, also mit Medikamenten behandelt und dann wieder entlassen hatte. Die Medizinstudentin wusste: Der Mann hätte operiert werden müssen! Einer schweren Aortenklappenstenose ist ohne Operation nicht beizukommen, ohne OP würde er sterben! Da sein Aufenthaltsstatus nicht geklärt war, hätte niemand die Kosten übernommen. Vom Krankenhaus aus erwirkte Lea mit Unterstützung der Caritas bei der Ausländerbehörde die Duldung des Mannes – diese wurde gewährt, da man in seiner Heimat eine solche OP nicht hätte ausführen können. Erst daraufhin erfolgte der rettende Eingriff.

Ob Deutschlands höchster Repräsentant wusste, wen er da empfing?

Man darf davon ausgehen. Denn die weit verbreitete Meinung, dass jemand, der einem »Illegalen« medizinische Hilfe leistet, selbst etwas Illegales tut, also eine Straftat begeht, trifft nicht zu. Im Gegenteil, wer im Notfall Hilfe verweigert, der erfüllt einen Straftatbestand – den der unterlassenen Hilfeleistung. Weil Ärzte darauf bestehen können, dass ihre Leistung vergütet wird, gibt es gesetzliche Regelungen. In aller Kürze und sehr vereinfacht: Auch »untergetauchte« Asylbewerber dürfen sich einen Behandlungsschein bei einem Sozialamt besorgen. Und nicht nur Ärzte unterliegen der Schweigepflicht, sondern, sobald Gefahr im Verzug ist, ebenso die Sozialämter: Sie dürfen die Daten der Patienten nicht an die Ausländerbehörde weitergeben. Nur, dass dies die Wenigsten wissen – nicht die Mitarbeiter der Ämter, nicht das medizinische Personal, schon gar nicht die Betroffenen. Die Netzwerke wollen hier vermitteln.

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Die Entscheidung, Ärztin zu werden, hat Lea Jacob nicht übers Knie gebrochen. Sie ist langsam in ihr gereift. Zum ersten Mal spielte sie mit dem Gedanken, als ihr kleiner Bruder an Krebs erkrankte. Ärzte konnten ihn damals heilen – sie besaßen die Macht dazu. Dass Macht und Ohnmacht dicht beieinander liegen, dass man auch die Ohnmacht aushalten muss, begann sie erst später zu ahnen. Und dass sie, könnte sie das nicht, mit dem Beruf nicht glücklich würde. In ihrer Heimat in Ost-Westfalen bat sie Ärzte um Gespräche, klopfte Für und Wider ab, bevor sie zu einem Entschluss gelangte.

Auch den Ort ihres Studiums hat sie mit Bedacht gewählt. Sie befragte das nationale Ranking der medizinischen Fakultäten: Die Magdeburger schnitt nicht schlecht, sogar gut bis sehr gut ab. Den letzten Ausschlag gaben dann die in Sachsen-Anhalt vergleichsweise noch niedrigen Lebenshaltungskosten; wer durchschnittlich verdienende Eltern und dazu drei Geschwister hat, kann sich keine großen Sprünge erlauben. Da auch andere so kalkulierten, fand Lea Jacob sich an einer Uni wieder, an der junge Leute aus ganz Deutschland, aus aller Herren Länder studieren. Alle Hautfarben sind auf dem Campus vertreten.

Es war Ende 2008, als ihre Kommilitonin Dong Nghi Phan im Hörsaal für jenes Projekt warb, aus dem dann im folgenden Jahr medinetz Magdeburg hervorging. Dong Nghi Phan, in Deutschland geboren, von ihren Freunden »Nini« genannt, arbeitet heute bereits als Ärztin, während Lea wegen Ronjas Geburt noch fürs zweite Staatsexamen büffeln und vielleicht ein Semester dranhängen muss. »Nini« hielt schon damals Kontakt zur Organisation IPPNW, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs. Von dort kannte sie Dr. Gudrun Günther, Oberärztin in der Universitäts-Pädiatrie, die erste Präsidentin des Vereins wurde. Lea, die zu diesem Zeitpunkt von der Theorie gefrustet war und nicht recht mit der Doktorarbeit vorankam, fragte, ob man sie brauchen könne. Mit dabei die Medizinstudentinnen Gosia Karwath und Daria Lewicka aus Polen und Mani Seyed Nassir aus Iran und andere.

Einen Verein wie medinetz zu gründen, erwies sich als aufwändiger als gedacht. Sie brauchten Verbündete. Es empfahl sich, das Projekt in der Öffentlichkeit vorzustellen – im Gesundheits- und Innenministerium, bei der Integrationsbeauftragten, beim Flüchtlingsrat, bei der Caritas, beim Roten Kreuz und anderen karitativen Organisationen. Bestand überhaupt Bedarf? Na sicher. Doch müssen diejenigen, die der Hilfe bedürfen, erfahren, dass es medinetz gibt, um sich dorthin wenden zu können. An der Hochschule Stendal-Magdeburg entstand ein ähnliches Projekt, die Konsequenz: man fusionierte. Dann die bürokratischen Formalitäten. Lea: »Die Anmeldung dauerte ewig.« Als ständigen Partner konnten sie auch die Gemeinnützige Gesellschaft für Ausbildung, Qualifizierung und Beschäftigung der Stadt gewinnen, die ihnen ein Büro im Bahnhof Buckau und eine Bürokraft zur Verfügung stellt – Öffnungszeiten müssen garantiert und das Telefon besetzt sein.

In der breiteren Öffentlichkeit stößt medinetz allerdings noch immer nur begrenzt auf Gegenliebe. Selbst humanistisch gebildete Leute hätten Vorurteile und Vorbehalte. Leiste denn das Netzwerk nicht der illegalen Einwanderung Vorschub? Und wer komme für die Behandlungen auf? Seien es nicht die Steuerzahler? Lea Jacob nennt es herzlos, Leben gegen Geld aufzurechnen. Hilfe zu leisten sollte das Ethos jedes Mediziners sein. Wünschen sich nicht auch Deutsche Ärzte, die die Gesundheit ihrer Patienten über Rentabilität stellen? Unser aktuelles Gesundheitssystem macht es Ärzten nicht leicht, Ideale zu haben – mit 26 hat man noch welche. Und das ist gut so, das ist richtig. »Ich studiere nicht, um später reich zu werden. Klar, möchte auch ich mal Geld verdienen. Aber nur soviel, dass wir davon leben können.« Mit »wir« meint Lea Tochter Ronja und Ronny, ihren Ehemann. Ihn lernte sie während des Studiums kennen, zur Zeit arbeitet er als Assistenzarzt.

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Zum harten Kern des Vereins zählen heute 20 Medizinstudenten. Ihre Klienten können sie an verschiedene Ärzte der Stadt überweisen, die unbürokratisch Hilfe leisten. Klinikärzte wie Ronny sind darunter. Und 15 niedergelassene Ärzte – Allgemeinmediziner, ein Chirurg, eine Internistin, eine Gynäkologin, ein Radiologe, ein Nuklear- und ein Labormediziner, eine Zahnärztin und – vier Psychologinnen. Oft ist auch die Seele krank, sind Menschen aus der Bahn geworfen: Soziale Ausgrenzung bedrückt.

Die künftigen Ärzte versuchen daher, speziell die Patienten ohne Papiere mit Hilfe der Partnerorganisationen in die Legalität zurückzuführen. Ob das letztlich gelingt, erfahren sie selten. Ihr Medizinstudium ist kein Nebenjob. Man braucht Zeit, um Schicksale zu verfolgen. Nein, Lea Jacob weiß nicht genau, was aus dem Vietnamesen wurde, dem sie das Leben rettete. Sie hat nur gehört, gesundheitlich gehe es ihm wieder gut, und er lebe irgendwo in Dresden. Ob nur geduldet oder sogar mit einer Perspektive in Deutschland – vielleicht will sie es gar nicht wissen? Sie hat, was sie konnte, für ihn getan. Lea Jacob will Ärztin werden, keine Menschenrechtlerin.

Und doch hat ihr die Einladung zum Empfang des Bundespräsidenten so etwas wie Kopfschmerzen bereitet. »Wäre Deutschland menschlicher, dann wären Vereine wie unserer überflüssig.«

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