Ärzte wollen Sozialstaat retten

Berufsband der Chirurgen debattierte über Reformen im Gesundheitssystem

  • Claus Dümde
  • Lesedauer: 3 Min.
Wenige Tage nach dem Deutschen Ethikrat haben auch Mediziner eine offene gesellschaftliche Debatte über die zunehmende Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen und deren Konsequenzen gefordert.

Wenn nicht rasch grundlegende Reformen eingeleitet und umgesetzt werden, drohe spätestens 2020 bis 2025 ein Zusammenbruch der medizinischen Versorgung auf dem gewohnten hohen Niveau, hieß es beim Workshop »Quo vadis Sozialstaat?« am Wochenende in Berlin. Eingeladen hatte der Berufsverband Deutscher Chirurgen. Dessen Präsident, Prof. Dr. Hans-Peter Bruch, nannte Gründe: Chirurgie sei sehr teuer, hänge also am Tropf des Sozialstaats. Die exponentielle Alterung der Bevölkerung treffe mit den Folgen der Finanzkrise zusammen. Die Unterfinanzierung des »Medizinsystems« in Deutschland sei dramatisch: Viele Milliarden fehlten, um Krankenhäuser und Praxen auf einen akzeptablen Stand zu bringen.

Einerseits werde das System der Fallpauschalen zur Gewinnoptimierung missbraucht, andererseits unverantwortlich gespart, beklagte Bruch: Krankenzimmer, Flure und Toiletten würden mit demselben Lappen gereinigt, chirurgische Instrumente von Ungelernten gepflegt, die nicht genug für ein menschenwürdiges Leben verdienen. Deutschland habe laut OECD das uneffektivste Gesundheitssystem der Welt. Aus dem aber wolle man mehr herausholen als drin ist, weshalb es bald an seine Grenzen stoßen werde. Daher seien Reformen unausweichlich: Kooperation zwischen Kliniken und niedergelassenen Ärzten wie in Australien, aber auch »Priorisierung«, die Festlegung, welche Leistungen Vorrang haben.

Eine Debatte darüber in allen Bereichen des Sozialstaats forderte der Gesundheitsökonom Prof. Dr. Eckard Nagel, Mitglied des Ethikrates. Der Sozialstaat sei sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit sowie der Freiheit und Würde des Einzelnen verpflichtet. Wer dabei die Notwendigkeit von Umverteilung ausblende, stehe nicht auf dem Boden der Verfassung.

Der Versorgungsepidemiologe Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann schilderte Defizite: Während es in Mecklenburg-Vorpommern ein Teil der Landbevölkerung ohne Auto nicht mehr an einem Tag zum Arzt und zurück nach Hause schafft, werde es bald viel zu wenig Mediziner geben. Bis 2020 müssten über 40 Prozent der Hausärzte und 35 Prozent der Chirurgen aus Altersgründen ersetzt werden, doch der Versorgungsplan des Landes sehe das oft gar nicht vor, weil die Bevölkerung abnimmt. Wegen deren Alterung nehme zugleich die Zahl der Patienten zu. Einzelpraxen, Medizinische Versorgungszentren und Kliniken müssten daher kooperieren, Ärzte Aufgaben wie beim AGNeS-Projekt an qualifizierte Krankenschwestern delegieren.

Vor Prognosen steigender Beitragssätze auf bis zu 50 Prozent warnte Vorstand Dr. Jens-Christian Baas von der Techniker Krankenkasse. Die Einnahmen pro Versichertem blieben trotz Verdopplung der Zahl der Rentner nahezu konstant. Finanzprobleme verursachte aber der medizinische Fortschritt. Deshalb sei ein Konsens darüber nötig, was wir bezahlen wollen und was nicht. Das dürfe aber nicht auf der Ebene Arzt – Patient erfolgen. Die Politik müsse sich dem endlich auch stellen. Es sei »unethisch, nicht über Rationierung zu reden«, betonte Prof. Bruch. Und Dr. Baas sieht die Zukunft in einer Pflicht zu einer Basisversicherung mit der Möglichkeit freiwilliger Zusatzversicherungen und einem »freien Markt« für Gesundheitsleistungen für die, die es sich leisten können. Drei-Klassen-Medizin im »Sozialstaat« von übermorgen?

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