Täuschung, Lüge, Statistik

Von Harry Nick

  • Lesedauer: 3 Min.

In dem bekannten Zitat von Winston Churchill, er glaube nur den Statistiken, die er selber gefälscht habe, wird nicht die vorherrschende Methode statistischer Lügen benannt. Die liegt nicht im Fälschen von Daten, im fehlerhaften Zählen und Rechnen der Statistiker, sondern in der Auswahl und in der Definition der Sachverhalte und im Verschweigen anderer. Das aber sind weniger Entscheidungen von Statistikern, sondern von Politikern.

Mehrfach war in letzter Zeit von Regierungsvertretern zu hören, dass das reichste Zehntel der Bevölkerung mehr als die Hälfte der Steuern zahlt. Damit sollen Forderungen abgewiesen werden, die Reichen zur Verringerung der staatlichen Schuldenlast heranzuziehen. Dieses »Argument« geht meines Wissens auf den stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Olaf Scholz zurück: Der hatte 2003 in seiner damaligen Funktion als SPD-Generalsekretär in 13 Thesen über »Gerechtigkeit und Solidarische Mitte im 21. Jahrhundert«, den Versuch unternommen, die alte sozialdemokratische Forderung nach Verteilungsgerechtigkeit programmatisch aufzugeben und sie durch die Forderung nach »Chancengerechtigkeit« zu ersetzen. Chancengerechtigkeit als Absage an Verteilungsgerechtigkeit ist seit jeher ein programmatischer Kernpunkt der Liberalen. Jeder müsse die Möglichkeit haben, Unternehmer zu werden. Und habe natürlich auch das Recht, unter Brücken zu schlafen. Dass Chancengerechtigkeit ohne Verteilungsgerechtigkeit nicht zu erreichen ist, wird nicht gesagt. Vor allem wird nicht gesagt, dass die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung, die diese 50 Prozent der Steuern aufbringen, über 60 Prozent des Gesamtvermögens besitzen und das reichste eine Prozent rund ein Viertel des Vermögens besitzt.

Die politische Statistik mag Durchschnittsgrößen. Im Durchschnitt ist das Geldvermögen je Bundesbürger im vorigen Jahr um fast sechs Prozent auf 59 900 Euro€ gestiegen, wird da gejubelt. Dass zwei Drittel der Erwachsenen über kein oder sehr geringes Vermögen verfügen, wird nicht gesagt. Das zweitbeliebteste Argument für weiteren Sozialabbau ist der Verweis darauf, dass die Sozialausgaben den Großteil der Staatsausgaben ausmachen und folglich auch den Großteil der angeblich unumgänglichen Ausgabenkürzungen tragen müssten. Wenn wenigstens zur Erläuterung angeführt würde, dass der Anteil der Massensteuern wie Lohn-, Mehrwert- oder Mineralölsteuer am Steueraufkommen seit 1960 von 38 auf 80 Prozent gestiegen, der Anteil der Gewinnsteuern von 35 auf 12 Prozent gesunken ist.

Die Zahl der Arbeitslosen liege bei etwa drei Millionen, sagt die amtliche Statistik. Nein, sie betrage 4,5 Millionen, ist vom DGB zu hören; nein, sie liege bei sieben Millionen, sagen andere. Woher kommen diese gewaltigen Differenzen? Eigentlich wäre die Wahrheit leicht zu finden: Man brauchte nur die Arbeitssuchenden zu zählen, die sich auf den Ämtern melden; das ergäbe wohl die 4,5 Mio. In den sieben Millionen ist auch die »stille Reserve« enthalten, Arbeitslose, die es aufgegeben haben, sich bei den Ämtern zu melden. Die drei Millionen sind die »registrierten« Arbeitslosen. Wer registriert wird, entscheiden politische Instanzen, nicht die Statistischen Ämter. Natürlich kann so auch die Arbeitslosenzahl politisch manipuliert werden. Arbeitslose in »arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen« zum Beispiel werden nicht registriert. Die Wege zur Wahrheit sind in diesem Musterland der Meinungsfreiheit oft sehr verschlungen, manchmal verbarrikadiert. Am besten wendet man sich mit seinen Fragen an die Gewerkschaften und die Linke.

In der wöchentlichen ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.

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