Kein Mexikaner, kein Italiener

Gregor Gysi trifft Zeitgenossen am Deutschen Theater Berlin – diesmal zu Gast: Mario Adorf

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein Telefonat. »Du, Mario, können wir mal zu dir kommen? Hier möchte dich jemand kennenlernen.« – »Ist sie hübsch oder soll ich mich anziehen?« – »Hübsch? Nein. Hat Pickel und trägt Leder.«

So lernte Mario Adorf den Regisseur Rainer Werner Fassbinder kennen. Und solcherart waren die Geschichten, die der Schauspieler am Sonntag auf der Bühne des Deutschen Theaters in Berlin erzählte. Gesprächs-Gastgeber Gregor Gysi erfragte sie nicht, er kannte die Geschichten und sah es nun als seine Aufgabe an, den stämmigen Achtzigjährigen per Stichwort zur werweißwievielten Reproduktion des anekdotischen Materials zu bewegen. Er tat es mit der sichtlichen Freude des Kindes, das einem Kinostar gegenüber sitzt, und Adorf antwortete mit der Geduld des Großen, dem Routine nichts nehmen kann von sympathischer Pfiffigkeit, von geradezu treuherziger Hingebungslust und komödiantischer Freude, eigenen Lebensstoff Mal um Mal zu präsentieren.

Der Schauspieler erzählte vor allem von der Mutter, die Röntgenassistentin war, wegen strahlenverbrannter Beine zur Schneiderin umlernte, den oft abgerissenen Mario später auf der Leinwand sah und erst beim geschniegelten Boss im TV-Mehrteiler »Der große Bellheim« meinte, jetzt sei auch ihr Sohn endlich »ein Herr«. Das Schneiderinnen-Urteil. Adorf erzählt bewegt von ihr, er hat ein Buch über sie geschrieben, auch über ihr Sterben, und bestimmte Film-Szenen, etwa sadomasochistischer Art, verweigerte er stets, »ich habe an meine Mutter gedacht, wenn es um die Grenzen dessen ging, was ich vor der Kamera treibe und was nicht.«

Adorf. Ein uneheliches Kind, 1930 in Zürich geboren. Der Vater, ein Süditaliener aus Kalabrien, ist Chirurg. Er raucht über hundert Zigaretten am Tag, pafft sogar bei der Operation. Adorf hat ihn nur ein einziges Mal im Leben gesehen, für etwa eine Viertelstunde. Da war der Sohn schon zwanzig. Bei jener Begegnung hatten sie einander vielleicht viel zu sagen, konnten es aber nicht ausdrücken. Der eine sprach noch nicht Italienisch, der andere nicht Deutsch. »Ich besuchte ihn später noch mal – an seinem Grab. Ich stand davor und sagte leise, was mir spontan einfiel: Na, du alter Arsch!«

Die Arbeit seiner Mutter machte den Aufenthalt des Neunjährigen im Waisenhaus nötig. Am 9. November 1938 brannten Synagogen. Am anderen Tag musste Mario im Bett bleiben, zufälliges Fieber. Er sah eine der Schul-Schwestern am Fenster stehen, war ergriffen von ihrem Weinen: Draußen schleppte man Juden fort. Als die Kameraden von der Schule kamen, kamen sie mit vollgepackten Taschen: Geplündertes aus jüdischen Geschäften. »Wäre ich in der Schule gewesen, hätte ich mitgemacht. So aber hatte ich an diesem Tag ein anderes einschneidendes Erlebnis. Es war ein Glück.« Prägungen extremen Gegensatzes: so zufällig, so hauchdünn voneinander getrennt. Jetzt fällt beziehungsreich das Wort Schicksal.

Erziehung »kam wenig vor« in Adorfs Eifel-Kindheit. Wenn in den Flegeljahren, nach Ansicht der Mutter, Züchtigung nötig war, musste ein Schmied von nebenan ran, ab in den Keller, dort schlug er mit ledernem Hosengürtel gegen Balken, und der unbeschadet bleibende Mario schrie, frühschauspielerisch, den Schmerz dazu.

Die Mutter hat unter dem unehelichen Zustand gelitten, »aber sie hat nie zugelassen, dass sich ihr Gefühl auf mich übertrug, sie hat mir Stärke gegeben, die sie gar nicht hatte.« Ihr wichtigster Satz: »Wenn du lernst, kommst du weiter, wenn nicht, wirst du Metzger.«

Mario kam weiter, sehr weit, spricht mehrere Sprachen, auch ein kleines Quantum Metzgergesicht half in die Filmgeschichte hinein – aber er spielte die Bösen am berührendsten, spielte nicht Bestien und »nicht Unmenschen, sondern – Menschen!« Er ist der Italiener. Der Boss. Der kultivierte Zwielichtige. Er ist im Film (auch bei Gysi) auf eine männliche Weise präsent, die auch etwas sehr Weiches, Sanftes, Kindliches behält. Gysi zitiert Volker Schlöndorff: Adorf kriege man immer, wenn man an seine Anständigkeit appelliere. Schöner Maßstab für Leben.

Mit den Jahren kultivierte er den Film-Typus des gemütlichen Machtmenschen, der sich hochgearbeitet hat und oben bleibt, weil er die Ängste seiner Untergebenen kennt; Ängste, die einmal seine eigenen waren und es womöglich noch sind. Man hat Worte dieser Männer noch im Ohr: das genüssliche »Ich scheiß’ dich so zu mit meinem Geld« des Klebstoffmillionärs Haffenlohner in »Kir Royal« oder das aufgesetzt väterliche »Kindschen«, mit dem er als rabiater Kommissar Beizmenne in Schlöndorffs Böll-Verfilmung die arme unschuldige Katharina Blum verhört.

Adorf parodiert Fritz Kortner, erzählt russische Trinkspruch-Geschichten. Einmal trug er Handschellen beim Dreh, der Requisiteur ging, vergaß diesen Adorf, kein Schlüssel da!, aber der Schauspieler musste zur Vorstellung an den Münchner Kammerspielen – es kam zur rettenden Szene auf einem Polizeirevier, die Karl Valentin geschrieben haben könnte.

Erfolgreich hat er der Gefahr widerstanden, filmisch als »ewiger Mexikaner« zu enden. Gysi erkundigt sich nach einem Leben, über vierzig Jahre, in Rom. Ja, so Adorf, er habe Italiener werden wollen, aber die Assimilation misslang, in seinen Sehnsüchten nach dem Südlichen erkannte er zusehends Träume eines – Deutschen. Und wieso nennt er seine Tochter (die im Saal ist) Freundin? »Wenn man als Vater nicht die absolute, dauerhafte Nähe zum kleinen Kind hat, intensiv mit dabei ist, wenn es aufwächst, dann ist man nicht wirklich Vater, und so kommt erst irgendwann die neue, andere Nähe – zur Tochter als Freundin«.

Nochmal Schicksal. Ein Pförtner als Weiser. Als Adorf, auf Münchner Wohnungssuche, zufällig an der Falckenberg-Schauspielschule vorbeikam und hinein wollte, war schon Betriebsschluss. Trotzdem drückte ihm der Mann an der Pforte Bewerbungsunterlagen in die Hand. Adorf füllte sie daheim aus, schickte sie weg, vergaß sie – und wurde eingeladen, angenommen, ausgebildet.

Ein unterhaltsamer Vormittag. Mario Adorf plaudert, nur über das Zerwürfnis mit »seinem« Regisseur Dieter Wedel – kein Wort. Der Basta-Schauspieler. Ansonsten ist er der gutwillige künstlerische Schwerarbeiter, der inmitten aller Eitelkeiten der Branche die nützliche Distanz behielt. Noch immer die gravitätische Gangart des galanten Vollschlanken. Und ein Applaus für seinen hartnäckigen Traum, im Film den alten Karl Marx zu spielen.

Einmal während der zwei Stunden war Adorf verdutzt, verstand einfach nicht. Weil Gysi mehrfach von »Schtaas« sprach, aber »Stars« meinte. Ob es noch »Weltschtaas« gebe, das war die Frage. Adorf betont nun sehr das »St«. Er jedenfalls sei keiner. Stars seien Künstler, deren Namen pur den Erfolg eines Films garantierten. Die Zeit heute verbrauche Größen eher, als dass sie Größen schaffe. Zu wenig Zeit, in dieser Zeit. Und Helden des Kinos sind anfassbar geworden, frühere Stars dagegen waren fremde Wesen, sie kamen von fern und verließen diese Ferne nie ganz, wie Sterne eben. Anhimmeln statt Nahaufnahmen. Er – schon angesehener Schauspieler! – habe sogar mal mit Marlene Dietrich auf einer Hoteletage gewohnt und Stunden hinter der Tür verbracht, um in jedem Schritt draußen sie zu erlauer. Vergeblich, »ich sah sie nicht und fühlte es bestätigt: Stars – ein anderes Wort für Geheimnis«.

Es gebe auch offene Geheimnisse: Adorf sei ein Weltstar!, legt Gysi fest, Applaus, Applaus, und der Smarte wirft sich den blauen Seidenschal um den Hals. Star eben. Als sei die Bühne des Deutschen Theaters der Berlinale-Teppich ...

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