Feuer und Asche

Michael Köhlmeier erzählt von erster Liebe – herzzerreißend

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Acht Anrufe in Abwesenheit zeigt ihr Handy, und sie ahnt, hofft, dass sie von Moritz sind. Aber wie soll sie zurückrufen? Ihre Telefonkarte ist leer. Und eine neue kann sie sich nicht kaufen, ihr Taschengeld ist aufgebraucht. Es ist so banal und doch so schlimm. Madalyn ist noch nicht ganz vierzehn; ihren Eltern kommt es gar nicht in den Sinn, dass sie einen Freund haben könnte. Ordentlich lernen soll das Mädchen und keine Schwierigkeiten machen. Doch Madalyn stiehlt, was Gottseidank nicht rauskommt, lügt, und eines Tages läuft sie von zu Hause weg. Beim Schriftsteller Sebastian Lukasser, der eine Etage über ihrer Familie wohnt, steht sie auf dem Balkon, bereit, sich hinunter zu stürzen. Der Mann, erschrocken, hilflos, bringt sie von ihrem Vorhaben ab, indem er ihr vom Selbstmord seines Vaters erzählt. Was für ein Schock es als Kind für ihn war, dass der Vater ihn einfach so verlassen hatte. Da hört sie ihm zu, steigt übers Geländer zurück auf sicheren Boden. Aber er kam sich schäbig vor; es war eine emotionale Erpressung gewesen.

Nur eine kurze Episode gegen Schluss des Romans, die auf seine Hintergründigkeit verweist. Was den 59-jährigen Lukasser bedrückt, erfahren wir nämlich kaum. Er ist ganz und gar mit Madalyns Geschichte beschäftigt, ihrem Vertrauen verpflichtet. Als ihren Lebensretter, ihren Schutzengel betrachtet sie ihn, seit er sie als Fünfjährige nach einem Autounfall aufhob und während der Fahrt ins Krankenhaus ihre Hand hielt. Nun will sie seine Hilfe, damit die Eltern sie mit einer der oberen Klassen nach Weimar fahren lassen. Weil sie gut in Deutsch ist, hatte sie die Lehrerin eingeladen, aber Madalyns Eltern lehnten ab, nachdem sie spät nachts betrunken nach Hause gekommen war. Von Moritz, der nach Weimar fuhr. Eine Woche ohne ihn, unmöglich. »Wenn ich nicht mit kann, ist alles vorbei.«

Überspanntheiten, denkt der Schriftsteller im Buch, aber der andere, der das hinschreibt, schüttelt traurig den Kopf. Erinnere dich mal, sagt er zu seinem Alter Ego, an deine erste Liebe. Erinnere dich an deine Tochter in diesem Alter – Paula Köhlmeier ist mit 21 Jahren tödlich verunglückt –, wie du um ihre Erziehung besorgt gewesen bist. Aber das alles schreibt er nicht hin, das gelangt unterschwellig dem mitfühlenden Leser in den Kopf.

In eine Rahmenerzählung aus der Ich-Perspektive Lukassers ist die Liebesgeschichte Madalyns eingebaut, die Lukasser nach deren Beichte in dritter Person erzählt. Das nachsichtige Lächeln wird einem vergehen. Das ist ernst und echt. Wirklich herzzerreißend, wie es der Klappenext verspricht. Was tut eine Frau, um einem Mann zu gefallen, welche Barrieren überwindet sie, um ihm nahe zu sein. Was gibt sie von sich hin für die Verzauberung. »Oben auf der Straße war es kühler, aber sie fror nicht. Sie war viel zu dünn angezogen, aber sie fror nicht. Ihre Hände waren kalt, aber sie fror nicht.« Und als sie zu Hause war, wollte sie gleich wieder zu ihm. Gute Gelegenheit: Die Eltern waren bei Freunden eingeladen. Sie kennt seine Adresse nicht so genau. Vor einem Haus in Wien steht sie und schaut hinauf zu den erleuchteten Fenstern. Da ist sie sich sicher, hinter welchem er sich befinden muss.

»Sie meinte, seine Gedanken erraten zu können; was er in diesem Moment dachte ... Sie konnte ihn besser verstehen als sich selbst.« Welch Trugschluss! Stück für Stück wird sie's begreifen. Immer wieder wird das Feuer auflodern und immer mehr Asche wird zurückbleiben. »Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu. Und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei«, wie Heine dichtete. Nun, das Herz bricht den wenigsten, sie bleiben am Leben, aber etwas ist erstorben in ihnen. »Erst, wenn man weiß, daß sie enden kann, hat man den Anfang der Liebe erreicht«, schrieb Eva Strittmatter. Stimmt wohl, man kann sich einreden, dass die Natur es so eingerichtet hat und diese vernünftige Liebe nun erst die wahre sei, besser als die verrückte ...

Aber Michael Köhlmeier spielt die Verrücktheit durch, und wir wissen die ganze Zeit beim Lesen: Madalyn irrt sich, wenn sie glaubt, dass dieser Glückstaumel bleibt. Ob Moritz ein Lügner ist? Vielleicht ja, vielleicht auch nein. Und sind ihre Eltern so herzlos, wie sie meint? Sie leben einfach nur in ihrer Welt. Wie es überhaupt allen Gestalten des Buches geht, dass sie in ihrer Welt leben – wie in einer Schüssel, über deren Rand sie nicht hinausblicken können. Auch der kluge Lukasser nicht.

Michael Köhlmeier: Madalyn. Roman. C. Hanser. 173 S., geb., 17,90 €
Als Hörbuch von Jumbo Neue Medien: 24,95 €.

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